Kleines Licht im Dunkeln by Lise Gast

Kleines Licht im Dunkeln by Lise Gast

Autor:Lise Gast [Gast, Lise]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Saga
veröffentlicht: 2016-04-21T00:00:00+00:00


* * *

Am andern Tag mußte sie feststellen, daß Mutter schon Recht hatte mit ihrer Ansicht über Heides Zuverlässigkeit. Als sie an der Pappel stand, jenem Baum an der Ausfallstraße, nahe beim Völkerschlachtdenkmal, an dem man sich traf, wenn man auf Fahrt ging, eine eintägige Fahrt aus Leipzig heraus gen Osten, erschien da keine Marienborner Geschwisterschar, weder zum verabredeten Zeitpunkt noch eine Viertelstunde danach, und es war ihr sehr peinlich Conrad gegenüber. Der ließ sich indessen nichts von Ärger anmerken, sondern ging hin und her, pfiff leise vor sich hin, und atmete die herrliche Morgenluft, die hier, schon außerhalb der Stadt, frisch und prickelnd war. Einmal wagte sie zu sagen, daß Heide vielleicht, ohne dafür zu können –

„Ach, ob sie kommt oder nicht, ist doch egal“, antwortete Conrad und lachte vergnügt. „Wir haben einen ganzen Sonntag im Schnee vor uns, ist das nichts?“ Und da war Friederun beinahe ein bißchen enttäuscht, als gleich darauf Heides Pfiff, der Wandervogelpfiff, ertönte: „Nach Süden nun sich lenken die Vöglein allzumal ...“ Da kam sie also, zwar ohne Brüder, also wiedermal anders als sie gesagt hatte, aber immerhin. In ihrer Windjacke, ohne Mütze, das Gesicht schon jetzt gerötet und frisch und sehr hübsch. Friederun fühlte wieder einmal, wie stolz sie war, sich als Heides Freundin zu fühlen, gerade Conrad gegenüber. Sie begrüßten einander mit Händedruck und dem üblichen „Heil!“ Hoffentlich fand Conrad das nicht albern.

„Meine Brüder sind nicht aufgestanden“, sagte Heide unbefangen, „mögen sie schnarchen. Wir sind uns selbst genug!“ sagte sie und steckte die Hände in die Windjackentaschen, „los, vorwärts, jetzt wird getippelt. Kannst du singen, Conrad?“ fragte sie gleich darauf. Er lächelte.

Es stellte sich heraus, daß die beiden, Heide und Conrad, in Bezug auf Lieder geradezu unwahrscheinlich gut zueinander paßten. Groß war ihr Vorrat, unerschöpflich, Heide hatte ganze Liederbücher selbst geschrieben und mit Texten gefüllt, die man nirgends gedruckt fand. Friederun wußte das. Im Sommer einmal auf einer Fahrt nach Grimma hatten sie einen halben Sonntag damit verbracht, zu singen; es goß, und sie saßen in einem alten Turm, der dort die Jugendherberge darstellte, nur Heide und sie. Damals hatte Friederun erstmals gewagt richtig mitzusingen, weil niemand außer ihnen dabei war. ‚Ein Franzose wollte jagen –‘ und ‚Zogen einst fünf wilde Schwäne –‘ und ‘Dort niedn in jenem Holze –‘. Heide konnte fast zu jedem Lied eine Oberstimme, und es machte Spaß, zweistimmig zu singen. Seit damals genierte sich Friederun nicht mehr, eine Stimme allein zu singen; früher hätte sie das nie gewagt, und Zensurensingen in der Schule bedeutete ihr eine unbeschreibliche Qual. Jetzt, da auch Conrad diese Lieder konnte und unbefangen einstimmte, sobald Heide eins anfing, fielen alle diese Beklemmungen von ihr ab, und es war, als hätten sie schon viele Jahre so miteinander gesungen.

Und es lief sich so herrlich dabei. Der Schnee verhüllte freundlich die recht eintönige, ja nüchterne Landschaft; dies waren im Sommer Rübenfelder oder Kartoffeläcker, kein Baum ringsum, kein Strauch. Aber unter der Schneedecke sah das Land ruhig und beinahe schön aus, und die Kinder Leipzigs waren bescheiden in Bezug auf Landschaft.



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