Kleine Monster by Lind Jessica

Kleine Monster by Lind Jessica

Autor:Lind, Jessica
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Beziehungskrise, Doris Knecht, Eltern-Kind-Beziehung, Elternschaft, Familienroman, heile Welt, Illusion, Kindheit, Mama, Mareike Fallwickl, Mutterschaft, Mutter-Sohn-Beziehung, Österreich, Regretting motherhood, Schule, Schwesternschaft, Sexualität, Spannung, Trauma, Wien
Herausgeber: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 2024-11-15T00:00:00+00:00


7

Ich fahre dem roten Landrover in unserem Ford hinterher und sehe durch die Heckscheibe, wie Josephine damit beschäftigt ist, Philli zu bespaßen. Immer ist die Kleine in Bewegung, auch im Auto will sie nicht ruhig sitzen bleiben. So viel Leben durchströmt ihren Körper. Die Kinder müssen die Blindschleiche aus der Winterstarre aufgeweckt haben, deswegen hatten sie so ein leichtes Spiel. Leblos ist sie vom Stock gebaumelt. Das Glitzern in Lucas Augen. War das Begeisterung? An der Quälerei oder an der Entdeckung?

»Pia«, Jakobs Stimme neben mir. »Hörst du mir überhaupt zu?« Er regt sich über seine Eltern auf, ich beschwichtige ganz automatisch. »Sie haben das bestimmt gemacht, um euch Arbeit abzunehmen. Du weißt doch am besten, wie wichtig ihnen so etwas ist.«

Der Friedhof liegt im Tal, ein wenig abseits der Kirche, daneben türmen sich die Berge und werfen ihren Schatten. Jakob hat mir einmal erzählt, dass es hier immer so kalt ist, egal zu welcher Jahres- oder Tageszeit, nie trifft auch nur ein Sonnenstrahl auf den Friedhof. Die Kälte kriecht durch unsere Herbstmäntel, findet auch unsere zu Fäusten geballten Hände in den Manteltaschen. Luca hat die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, mir fällt auf, dass ihm seine Regenjacke zu kurz wird, in Gedanken mache ich eine Notiz. Alfred, Jakobs Vater, begrüßt uns am Friedhofstor, während Gundi, Jakobs Mutter, einen Finger auf die Lippen legt, damit wir nicht zu laut sind, die Toten wollen ihre Ruhe. Die beiden sind die Einzigen, denen die Kälte nichts auszumachen scheint. Als Philli die Oma sieht, will sie sofort zu ihr auf den Arm. Gundi ächzt ein wenig, aber nimmt die Kleine trotzdem hoch, nennt sie ihr Äffchen. Alfred reicht Luca seine Hand. Verständlicherweise ist er ein wenig scheu, so selten, wie er seine Großeltern sieht, auch wenn sie sich bemühen, den Abstand auszugleichen, indem sie zu Weihnachten, zum Geburtstag und zu Ostern große Pakete schicken und einmal im Jahr zu Besuch kommen. Doch dann schlafen sie im Hotel, weil unsere Wohnung zu klein ist. Nie ist genug Zeit, um wirklich einen Alltag gemeinsam zu erleben, immer ist einer Gast. Ich schaue zu Jakob und frage mich, ob er es auch sieht, ob es ihm wehtut, die Vertrautheit seiner Eltern zur Enkelin, das Selbstverständliche im Umgang mit ihr und im Gegensatz dazu Alfreds zögerlich in der Luft schwebende Hand, bevor er sie Luca auf den Rücken legt. Der Weg zwischen den Gräbern ist schmal, wir gehen hintereinander, ich ganz zum Schluss. Alle bemühen sich, still zu sein, es knirscht nur der Kiesel unter unseren Füßen.

Mein Blick schweift über die Grabsteine, ich lese die Namen im Vorübergehen. An einem Datum bleibe ich hängen. 22.11.2019—22.11.2019. »Lio Gabriel Weninger« steht davor und darüber: »Franziska Weninger 30.4.1998—22.11.2019«. Ist die Mutter bei der Geburt gestorben, gemeinsam mit ihrem Kind? Gibt es das heutzutage noch? Ich rechne im Kopf nach — so jung! Da ist auch ein Foto von ihr, es wird von den Pflanzen überwuchert, üppig bedeckt ist das Beet, man sieht, dass sich jemand Mühe gibt, es zu pflegen. Es ist ein Dienst an den Toten.



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