Klassenbild mit Walter Benjamin by Brodersen Momme

Klassenbild mit Walter Benjamin by Brodersen Momme

Autor:Brodersen, Momme [Brodersen, Momme]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-05-18T16:00:00+00:00


Fliehen oder auswandern?

Ob Katz’ ehemalige (jüdische) Klassenkameraden um sein Schicksal wussten? Und ihnen sein Fall eine Warnung war? Darauf deutet bislang nichts hin, kein Brief, keine Anspielung, kein Dokument ihrer schriftlichen Hinterlassenschaften. Für die meisten von ihnen waren weitere Warnungen auch gar nicht nötig. Sie hatten bereits nach den ersten einschneidenden Maßnahmen und Ereignissen des Jahres 1933 begriffen, was ihnen unter dem nationalsozialistischen Regime blühte, sollten sie denn in Deutschland bleiben. Die Frage, die sich ihnen stellte, war nur: Sollten sie umgehend die Flucht ergreifen? Oder besonnener ans Werk gehen und gewissermaßen einen ›geordneten‹ Rückzug antreten, sprich: ihre Auswanderung betreiben, um so noch wichtige Dinge regeln zu können und auch nicht völlig mittellos ins Exil zu ziehen?

Als Katz im August 1933 verhaftet wurde, weilten mit Benjamin, Fraustädter, Grünberg, Simon und Strauss bereits fünf Abiturienten des Jahres 1912 im rettenden Ausland. Nur Benjamin hatte seiner Heimat Hals über Kopf den Rücken gekehrt und war schon Mitte März geflüchtet. Was hatte ihn veranlasst, derart überstürzt zu handeln? Was befürchtete er? Dass er festgenommen würde? Natürlich war er allein schon aufgrund seiner Herkunft bzw. seines Glaubensbekenntnisses gefährdet. Als Jude musste er jederzeit mit willkürlichen Übergriffen seitens des braunen Mobs rechnen. Auch existierten erwiesenermaßen vorbereitete schwarze Listen, nach denen die Nazis im Zuge des Reichstagsbrandes das Land mit einer nie dagewesenen Verhaftungswelle überzogen. Doch war er wirklich so exponiert und prominent, dass er annehmen musste, die Nationalsozialisten hätten ihn längst im Visier und würden ihn alsbald in ›Schutzhaft‹ nehmen? Die Atmosphäre, die in jenen Tagen und Wochen nicht nur in Berlin herrschte und Entscheidungen für diejenigen schwer machte, die aus dem einen oder anderen Grunde Befürchtungen hegten, hat der ehemalige Kaiser-Friedrich-Schüler Hans Sahl in der Nacherzählung seines eigenen Schicksals – er war ebenfalls schon im März 1933 aus Deutschland geflohen – so beschrieben: Ja, auch sein Name habe »auf einer schwarzen Liste« gestanden, das sei ihm jedenfalls von Leuten zugetragen worden, »die Zugang hatten zu den Stellen, wo« solche Verzeichnisse versteckt waren. Andererseits aber hätten die Gefährdeten ihre Lage nicht immer mit dem gebotenen Ernst betrachtet. Denn häufig sei ihnen das Ganze auch wieder nur wie eine Art Spiel vorgekommen. Damals, so Sahl, hätten im ›Romanischen Café‹ immer ein paar Leute gesessen, die nicht wussten, ob sie fliehen sollten oder noch bleiben könnten. So sei er einmal dem Schauspieler und »großen Barrikadensänger« Ernst Busch »in der Drehtür« dieses Künstler- und Intellektuellentreffs am Kurfürstendamm begegnet: »er ging raus, ich ging rein, und er sagte: ›Mensch, du bist noch hier?‹ Das war die Stimmung. Man saß im Cafe, und dachte, wohin eigentlich? Fliehen, wie geht das überhaupt?«244 Diese Unsicherheit, was zu tun sei, und die Ungewissheit, was einen erwartete, spiegelt die Haltung fast aller jüdischer Abiturienten des Jahres 1912 wider. Wo die einen schon bald nach dem Reichstagsbrand und den Wahlen vom 5. März 1933, spätestens aber mit dem ›Judenboykott‹ vom 1. April und der Bücherverbrennung vom 10. Mai die Flucht ergriffen oder zumindest umgehend damit begannen, ihre legale Auswanderung zu betreiben, zögerten die anderen noch oder wollten zunächst gar nichts von derlei Dingen wissen.



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