Kindheit und Jugend unter Hitler (B009MQOTQO) by Helmut Schmidt & Loki Schmidt

Kindheit und Jugend unter Hitler (B009MQOTQO) by Helmut Schmidt & Loki Schmidt

Autor:Helmut Schmidt & Loki Schmidt [Schmidt, Helmut]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Pantheon Verlag
veröffentlicht: 2012-10-22T04:00:00+00:00


Alltägliche Jugend

DIETRICH STROTHMANN

Einen Toten habe ich nie gesehen, nicht als Hitlerjunge, beim Luftschutz, als Flakhelfer, beim Arbeitsdienst, als Soldat. Tote sind mir erspart geblieben in jener Zeit, da es so viele Tote gab. Wie kam das?

Erst viel später, lange nach dem Krieg, schon als Student, sah ich den ersten Toten meines Lebens: Er hing auf dem Dachboden des Nachbarhauses an einem Strick, ein alter Mann, das Gesicht blau angelaufen, mit heraushängender Zunge. Ich war gerade an dem Haus vorbeigegangen, als mich das Hausmädchen hereinrief, ich sollte ihr helfen, den schweren Körper abzuschneiden. Der Tag war heiß, unter dem Dach staute sich die Hitze, es roch schon nach Verwesung.

Von den Toten des Dritten Reiches dagegen habe ich auch später nur gehört oder sie auf Photos gesehen: tote Juden, tote Deutsche. Ich habe mir immer nur vorstellen können, wie sie gestorben sind. Augenzeuge bin ich nie gewesen.

Warum fange ich meine Geschichte so an: mit der Frage nach den Toten? Weil sie zu der Zeit dazugehören, über die ich berichten soll? Und weil es vielleicht typisch ist für ein Leben in jenen Jahren, daß sie fehlten in diesem Leben?

War es nur Zufall oder Glück, daß dieses Leben so beschützt und behütet war, wie es war? Millionen starben, ermordet, erschossen, erstickt, in Gaskammern, auf Schlachtfeldern, in Bombennächten; aber ich habe sie nicht gesehen. War es nichts als eine Frage des Jahrgangs, der »Gnade später Geburt«? Andere, ebenso jung, haben es gesehen, waren dabei. Wie kommt es, daß ich davon verschont blieb?

Nachher habe ich viel davon gehört und gelesen. Ich war in den Gerichtssälen, wo gegen die Mörder verhandelt wurde, las die Dokumente über die Schrecken der Bomben, sah die Filme über die Flucht und machte mir so ein Bild über den Tod, über den massenhaften, anonymen Tod und über den Tod dieses einen Kindes, dieser einen Mutter, dieses einen Großvaters.

Einmal, in einer Badeanstalt bei Tiberias am See Genezareth, viele Jahre später, wurde mir das plötzlich klar. Wir Journalisten warteten auf Willy Brandt; er war der erste Bundeskanzler, der Israel besuchte, und an jenem Tag traf er sich mit dem damaligen Außenminister Jigal Alton in dessen Kibbuz Ginossar. Ich sah die Kinder am Ufer des Sees, auf der Wiese, sie spielten, planschten, schwammen. Eigentlich, fiel es mir da blitzartig ein, eigentlich dürften sie gar nicht leben, diese jüdischen Kinder. Wäre es nach Hitler gegangen, nach seinem Willen, der mir beigebracht worden war … Oft schon war ich in Israel gewesen, wie selbstverständlich, hatte als Journalist über die Politik des Landes berichtet, mit seinen Menschen gesprochen und Freundschaften geschlossen, ohne mich zu fragen: Hättest du damals auch diese Juden umbringen können? Wärest du fanatisch genug gewesen, das zu tun? Aus Büchern, auch durch die Beobachtung der KZ-Prozesse wußte ich Bescheid. Ich hatte die Berge von Frauenhaar gesehen, die man in Auschwitz angehäuft hatte, die Stapel von Koffern, die Haufen von Kinderschuhen und Brillen. Ich hatte die Hände Bogers gesehen, der während des Frankfurter Auschwitzprozesses vor mir in der Anklagebank saß und der einer der brutalen Mörder gewesen war.



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