Keine Erde gleicht der anderen: Thriller (German Edition) by Gyllander Varg

Autor:Gyllander, Varg [Gyllander, Varg]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: btb Verlag
veröffentlicht: 2014-09-07T22:00:00+00:00

Ulla Fredén hatte die Nacht durchgearbeitet. Jetzt stand eine Tasse dampfend heißer schwarzer Kaffee vor ihr, und sie betrachtete den Schädel auf dem Stativ am Fenster. Sie musste daran denken, wie früher vor Straßenräubern gewarnt wurde. Abgetrennte Köpfe hatten schon immer eine abschreckende Wirkung besessen.

In der Nacht hatte sie den Schädel mit roten Plastikstiften versehen, die den Abstand zwischen den Knochen und der seit langem aufgelösten Haut markierten und über die Dicke der Weichteile Aufschluss gaben. Die Länge jedes Plastikstifts orientierte sich genauestens an den Tabellen, die Ulla Fredén in Forensic Art and Illustration nachgeschlagen hatte. Vor ihr auf dem Tisch lag eine ungeöffnete Packung Plastilin, das sie für die Nachbildung der Muskeln und Fettschichten des Gesichts verwenden wollte.

Die Sonne war schon lange aufgegangen. Es würde auch heute wieder ein warmer, trockener Tag werden. Die Felder warteten mit verschiedenen Gelbschattierungen auf. Die Bauern hatten die von der Trockenheit zerstörten Ernten verloren und würden alles unterpflügen oder als Silage in weißen Rundballen lagern, die ihr dann die Aussicht verdarben. Einzig eine große, ausladende Eiche durchbrach die gerade Linie des Horizonts. Es hatte Pläne für eine Windkraftanlage gegeben, wodurch die freie Ebene mit zwanzig Windrädern bestückt worden wäre, aber die Proteste waren zu vehement gewesen, und zu Ulla Fredéns großer Erleichterung hatte man das Vorhaben auf Eis gelegt. Sie brauchte diese Felder und weiten Flächen. Sie konnte stundenlang dasitzen und sie betrachten. Sie verdrängten den sonst so allgegenwärtigen Tod. Mit den Feldern vor sich kannte sie dem Tod mit größerer Zuversicht begegnen. Sie kannte das Gedicht auswendig und begann es leise aufzusagen. So leise, dass es fast nur ein Gedanke war.

Es war ein alter Bauersmann

der sang auf seinem Acker.

Er trug einen Korb mit Saat in der Hand

und säte zwischen den Worten

für den Beginn des Lebens und das Ende des Lebens

seine neue Saat.

Von Sonnenaufgang bis Sonnenaufgang ging er auf und ab.

Am Morgen des letzten Tages

stand ich da wie ein Hasenkind, als er kam.

Wie bange mir doch ward von seinem schönen Gesang!

Er packte mich und setzte mich in seinen Korb

und als ich eingeschlafen war, setzte er seinen Weg fort.

Den Tod, ich dachte ihn mir so.

Es klingelte. Ulla Fredén stellte die Tasse mit verärgertem Kopfschütteln ab und ging hinunter um zu öffnen.

Ulf Holtz stand vor der Tür und strahlte mit der Sonne um die Wette.

»Sie hat braune Augen mit grünen Sprenkeln«, sagte er und trat ein.

Die Augen der Toten betrachteten sie leicht schielend. Ulla Fredén justierte sie ein paar Millimeter und trat einen Schritt zurück, um das Ergebnis zu begutachten. Die Verwandlung war verblüffend. Obwohl es sich nur um einen leblosen, weißen und mit roten Plastikstiften versehenen Schädel handelte, schien er plötzlich zum Leben erwacht zu sein und so etwas wie Persönlichkeit auszustrahlen.

Ulf Holtz fröstelte es.

»Kein Wunder, dass man die Augen manchmal als Spiegel der Seele bezeichnet«, sagte er.

Ulla Fredéns Blick wirkte plötzlich abwesend. Sie streckte die Hand aus, um den Schädel zu berühren.

»Was weißt du noch über sie?«, fragte sie.

Holtz beugte sich vor und griff nach seiner Tasche mit den Auskünften von Odd Thorvaldsson, die in einer dünnen, roten Pappmappe mit dem Wappen des Seminars der Evolutionsbiologen lagen.

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