Kant und der sechste Winter by Häußler Marcel

Kant und der sechste Winter by Häußler Marcel

Autor:Häußler, Marcel
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Heyne Verlag
veröffentlicht: 2021-12-15T00:00:00+00:00


23

Beinahe hätte er ihre Spur verloren. Er wusste, wer sie war. Melanie Klever. Er hatte sie gleich erkannt, als er Spicher zum Hotel gefolgt war. Normalerweise war es nicht schwer, jemanden aufzuspüren, dessen Namen man kannte. Wenn derjenige ein halbwegs normales Leben führte.

Er hatte im Internet nach ihrer Adresse gesucht und nichts gefunden. Sie hatte zwar eine Facebook-Seite, aber schon seit über drei Jahren nichts mehr gepostet. Unter dem Namen eines ehemaligen Mitschülers von ihrer Faceboook-Seite hatte er eine Anfrage beim Einwohnermeldeamt gestellt und schließlich ihre Adresse bekommen. Er hatte gar nicht gewusst, dass das so einfach war, und es ärgerte ihn. Für zehn Euro verriet der Staat seine Bürger.

Die Adresse hatte ihn zu einem Zweifamilienhaus in einer öden Wohnsiedlung am Stadtrand geführt. Da ihr Name nicht auf der Klingel stand, brach er beide Briefkästen auf, um zu sehen, ob sie vielleicht ihre Post herschicken ließ. Nichts. Im oberen Briefkasten fand er eine Postkarte aus dem Skiurlaub an Mami und Papi. In dem unteren lag ein Katalog von Bonprix. Das passte schon eher. Der Katalog war an eine Verena Müller adressiert, deren Name auch an der Klingel stand.

Er wartete, bis sie nach Hause kam. Eine Frau, kaum älter als Melanie, die einen Kinderwagen vor sich herschob. Er fragte sich, ob die beiden hier zusammengewohnt hatten. Vielleicht eine Nutten-WG. Und dann auch noch Kinder in die Welt setzen. Es ekelte ihn an.

Er fing sie vor der Haustür ab und gab sich wieder als der Schulfreund aus. Verena wollte nicht mit ihm reden. Sie versuchte, sich an ihm vorbei in den Hausflur zu drängeln. Das klappte nicht besonders gut mit dem Kinderwagen. Er packte sie am Hals und drückte sie gegen die Wand. Es dauerte ungefähr drei Sekunden, bis sie die Adresse von Melanies Freund Paul ausspuckte. Er machte ihr klar, dass er wiederkommen würde, wenn sie Melanie oder sonst jemandem von ihrem Gespräch erzählen würde.

»Junge oder Mädchen?« Er beugte sich über den Kinderwagen. Verena wollte es ihm nicht verraten. Sie warf das Fahrrad im Hausflur um, als sie ihr Kind in Sicherheit brachte.

Einen ganzen Tag vergeudete er damit, Pauls Haus zu beobachten. Am Abend sah er, wie in seiner Wohnung das Licht anging. Kurz zuvor war ein junger Mann mit einem Audi TT in die Tiefgarage gefahren. Er beschloss, weiter abzuwarten. Der Typ würde sich wahrscheinlich nicht so leicht einschüchtern lassen wie ihre Nuttenfreundin.

Als Melanie weder am Abend noch am nächsten Vormittag auftauchte, fuhr er zu dem Hotel, in dem sie sich mit Benedikt getroffen hatte. Vielleicht ging sie ja regelmäßig hier ihrer sogenannten Arbeit nach. Ohne große Hoffnung wartete er.

Irgendwann würde er sie irgendwo finden, denn er hatte alle Zeit der Welt. Es gab nichts mehr, was wichtig war in seinem Leben, außer diese eine Sache zu Ende zu bringen. Alles andere war vor langer Zeit zerstört worden.

Er überlegte gerade, unter welchem Vorwand er an der Rezeption nach ihr fragen könnte, da hielt ein roter Fiesta vor der Schranke zur Tiefgarage. Zu weit vom Automaten weg, um einen Parkschein zu ziehen.



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