Kallocain by Karin Boye

Kallocain by Karin Boye

Autor:Karin Boye
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2012-09-19T22:00:00+00:00


10

Wir mußten auf Tuareg warten. Wenn man daran gewöhnt ist, daß jede einzelne Minute, sowohl nachts wie am Tage, genau eingeteilt ist, wirkt eine solche Wartezeit unglaublich quälend. Aber alles, auch das Schlimmste, geht vorüber, und so fand sich der Polizeiminister endlich ein, und wir bekamen Gelegenheit, die Tauglichkeit des Kallocains zu beweisen. Ich hatte kaum geglaubt, daß ich mich so bemühen müßte, nicht mit der Hand zu zittern, als vor mir im Stuhl der Ärmel eines unrasierten Verbrechertyps hochgekrempelt wurde; aber Tuaregs kleine Bärenaugen stachen einen so in den Nacken, daß man fast meinte, selbst eine Spritze zu erhalten. Alles verlief aber gut. Außer eine Reihe ekelhafter Unanständigkeiten, die den vollen Mund des Polizeiministers zu einem Lächeln verzogen und damit die Stimmung etwas auflockerten, legte der Untersuchte nicht nur ein vollständiges Bekenntnis über den ihm zur Last gelegten Einbruch ab – für den er noch nicht hatte überführt werden können –, sondern auch noch über eine Reihe weiterer Verbrechen, die er allein oder zusammen mit andern ausgeführt hatte. Alle Namen und näheren Umstände gab er ohne mit den Augen zu zucken an. Tuaregs Nasenflügel weiteten sich voller Wohlbehagen.

Andere Versuchspersonen folgten. Rissen und ich machten abwechselnd die Einspritzungen. Der Sekretär des Polizeiministers setzte das Protokoll auf, und um uns noch weiter zu prüfen, hatte man auch einige unschuldige Mitsoldaten zur Untersuchung beordert – das heißt unschuldig in bezug auf gesetzwidrige Handlungen; im allgemeinen erwies sich das Wort »unschuldig« – zum deutlichen Entzücken des Polizeiministers – nur selten als zutreffend. Als wir in erstaunlich kurzer Zeit sechs Personen untersucht hatten, erhob sich Tuareg und erklärte, daß er vollkommen überzeugt sei. Das Kallocain werde in kürzester Zeit alle andern Untersuchungsmethoden im ganzen Weltstaat ersetzen, erklärte er. Uns wollte er noch ein paar Tage hierbehalten, um einige Experten für die Hauptstadt anzulernen; außerdem wollte er, daß unsere Aufgabe nach unserer Rückkehr in die Chemiestadt Nr. 4 darin bestehen sollte, Fachleute für Kallocainuntersuchungen auszubilden und außerdem natürlich Kallocainhersteller in großer Zahl. Er verließ uns in guter Laune, und kurz darauf wurden uns ungefähr zwanzig Personen geschickt, die wir nun also ausbilden sollten. Versuchspersonen standen in einer langen Reihe vor der Tür und warteten. Es waren alles Verbrecher, welche aus dem Untersuchungsgefängnis direkt hierher geführt worden waren.

Schon am darauffolgenden Tage wurde ich zu Karrek gerufen und erhielt den Befehl, im Moment alle Arbeit Rissen zu überlassen. Mir selbst gab er einen recht ansehnlichen Stoß Papiere: Lizenzen, Empfehlungen und Identitätsausweise.

Ich habe gewiß vergessen zu berichten, daß die Anregung zu einem neuen Propagandafeldzug für den Freiwilligen Opferdienst, die ich ausgearbeitet und den verschiedenen Versuchsanstalten in der Chemiestadt vorgelegt hatte, in ein paar Tagen voll unterzeichnet worden war und daß ich alle diese Unterschriften mitgenommen hatte, um sie im Propagandaministerium selbst abzugeben. Sicherheitshalber fragte ich Karrek um Rat, wohin ich mich wenden sollte, Und er gab mir viele gute Hinweise. Meine ausgezeichneten Empfehlungen würden mir sicher auch Eingang ins Dritte Büro verschaffen, von dem diese Propaganda organisiert wurde. Bald saß ich in der Untergrundbahn und stieg bei dem stattlichen, unterirdischen Portal des Propagandaministeriums aus.



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