Kairos (German Edition) by Gallo Christian

Kairos (German Edition) by Gallo Christian

Autor:Gallo, Christian [Gallo, Christian]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Books on Demand
veröffentlicht: 2014-01-07T23:00:00+00:00


28

Nazma passierte das Haupttor des Universitätsgeländes und betrat den Campus. Sie hatte sich in ihren Mantel gehüllt, den Kopf mit einem Kurshandbuch als Regenschutz darüber eingezogen. Sie lief so schnell sie die Beine trugen, während Regen unablässig auf sie einprasselte.

Im Studentenheim war die Abendessenszeit gerade vorbei. Die Spätvorlesungen standen bevor. Das akademische Jahr war auf seinem Höhepunkt, und für gewöhnlich wimmelten die Ziegelpfade von Studenten, Dozenten und Professoren, die zu den Instituten, in die Hörsäle oder das Verwaltungsgebäude eilten. Nun aber lag das Universitätsgelände ziemlich verlassen. Nazma wußte warum. Jeder tat das.

Sie bog um eine Ecke und lief voll in den Wind. Über einen weiten Rasen, umgeben von alten englischen Eichen, in denen mehrere neonfarbene Frisbeescheiben hingen, sah sie die geodätische Kuppel der Sporthalle und die breite Eingangstreppe der Hitachi-RBS-Hall, dem Hauptgebäude, aufragen, beides hinter einem Regenschleier und angestrahlt. Rechter Hand lag ihr Wohnheim aus rotem Backstein, dessen Fassade der Graffitispruch zierte Wenn das Universum ein Computer ist, was ist dann die Hardware?

Nazma lief eine Steintreppe hinauf und betrat den mit Studenten vollgestopften Aufenthaltsraum. Man saß auf dem Boden oder drückte sich in Gruppen an die Wände. Alle diskutierten mit angespannten Stimmen miteinander – und sahen dabei die meiste Zeit zu einem ganz vorn, unter einem Treppenbogen flimmernden, zwei Meter hohen Holo.

Nazma strich die Kapuze zurück und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Sie suchte Judith. Sie mußte hier irgendwo sein...

Sie kam nur langsam voran. Die Luft war feucht und roch nach nasser Kleidung und nassen Haaren. Ihr Herz schlug heftig, was nur zum Teil am Laufen lag. Aron Berg, tot! Ermordet von einem Verrückten! In der Villa! Und das jetzt, wo die vertraute Welt ohnehin vor dem Kollaps stand. Das Ganze war ein Desaster. Nazma, wie die allermeisten, war geschockt.

Immer näher kam sie dem Holo. (Soeben lief eine PepsiCo-Reklame.) Die Hauptberichterstattung galt jetzt ebenso Bergs Tod wie dem Mond. Nazma entdeckte ein paar Kommilitonen, aber nichts zu sehen von Judith. Sie blieb stehen und folgte der Übertragung.

Jemand berührte zaghaft ihre Schulter. Nazma, sicher, Judith stünde hinter ihr, fuhr herum. Ihre Züge entgleisten kurz. Oh nein! Nicht sie. Vor ihr stand eine Frau in ihrem Alter, Körper, Gesicht und Modestil – weißes Polohemd, schwarzer Rock, eine Spur von Lippenstift – unscheinbar schlicht. Sarah-Jemima Watkins. Spröde Eigenbrötlerin mit überzogener Weltgewandtheit (Besserwisserei), konservativem wie robustem Gottesbild und impertinentem Bloßlegen ihres (zugegeben) maßgeblichen Intellektes. Sie belegte vergleichende Religionswissenschaften und Theologie, war der Liebling des Lehrkörpers, Chefredakteurin der Campusperiodika Pulsar und Präsidentin des Debattierclubs. Sie war ein Nerd, hochtalentiert und privilegiert, aber vom Rest der Welt weithin abgeschottet. Sie galt als Unperson, aber als insgeheim geachtet.

„Oh.“ Nazma mühte sich, nicht genervt zu klingen. „Hi.“ Sie lächelte maskenhaft. „Ich – hast du Judith gesehen?“ Sie sah sie beim Sprechen nicht an, sondern überblickte angestrengt die Menge. „Wir wollten uns hier treffen. Ich sehe sie nirgends.“ Sie haßte solch vordergründigen Small Talk. Dennoch betrieb sie ihn.

„Tut mir leid. Ich weiß auch nicht, wo sie ist.“

Natürlich nicht. Fand Nazma Sarah-Jem langweilig und unausstehlich, verabscheute Judith sie nachgerade.



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