KL Gespräch über die Unsterblichkeit by von Düffel John

Autor:von Düffel, John [von Düffel, John]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832188474
Herausgeber: Dumont
veröffentlicht: 2015-02-23T16:00:00+00:00

HS (DER FALL)

Der Zug nach Hamburg hat ca. dreißig Minuten Verspätung. Mit einem Schwung von Geschäftsreisenden betrete ich die DB-Lounge im Berliner Hauptbahnhof, um die Zeit zu überbrücken. Am Empfang zeige ich das Erste-Klasse-Ticket vor, das Bertrand mir geschickt hat, und setze mich in einen Sessel mit Blick aufs Kanzleramt. Die Frau mir gegenüber erkenne ich sofort. Ich komme nicht auf den Namen, aber sie ist es, eindeutig: ehemalige Politikerin, Exministerpräsidentin, frühere Botschafterin eines Kinderhilfswerks – und hat sie nicht auch mal bei dieser Tanzshow mitgemacht, einer der ersten Staffeln von »Let's Dance«?

Im Gegensatz zu Namen vergesse ich Gesichter nicht so schnell.

Das Erstaunliche ist: Sie sieht genauso aus wie im Fernsehen, nur jünger, viel jünger sogar, nicht so müde und verbraucht wie sonst die Gesichter, die durch die Mühlen der Medien gegangen sind. Im Gegenteil. Mit ihrem Hut – einem schwarzblauen Sommerhut aus Bast mit beigefarbenem Flatterband und breiter Krempe – wirkt sie geradezu mädchenhaft frisch. Hüte waren immer ihr Markenzeichen, ausgefallene, englisch anmutende Modelle. Offensichtlich möchte sie erkannt werden.

Wenn ich den Name nur wüsste …

Neben ihr – der Politpensionärin mit dem viel zu jungen Gesicht – sitzt niemand, doch die Plätze links und rechts sind mit Handtasche und Schal belegt. Das Personal serviert Kaffee und Mineralwasser für drei, sie ist anscheinend nicht allein hier. Leibwächter können es nicht sein, dafür ist sie nicht mehr wichtig genug. Es reicht ja nicht einmal für einen Fahrer, sonst wäre sie nicht mit der Bahn unterwegs. Nein, sie ist schon lange nicht mehr im Tagesgeschäft und im Fernsehen, fünf, sechs Jahre vielleicht. Auf dem Bildschirm schräg über ihr läuft eines der Nachrichtenprogramme, die immer laufen, mit den neuesten Schlagzeilen im Live-Ticker, ohne dass sie hinsieht. Auch das Kanzleramt in ihrem Rücken scheint sie nicht zu interessieren. Dabei steht es ihr gut.

Es kann doch nicht sein, dass mir der Name nicht einfällt!

Allerdings muss sie einen Friseur und eine Visagistin haben, die Wunder wirken und die Zeit nicht nur anhalten, sondern auch zurückdrehen können. Diese Frau sieht nicht älter aus als fünfundvierzig, mit bösem Willen vielleicht fünfzig. Selbst wenn man also sagen würde, der Abschied von der Politik habe ihr gutgetan und sie um fünf bis zehn Jahre verjüngt, fehlt in ihrem Gesicht immer noch etwa eine Dekade, die sie weggeschminkt haben muss. Eine jüngere Ministerpräsidentin hat es in Deutschland nie gegeben. Es hat vor ihr, wenn ich mich recht erinnere, überhaupt noch keine Ministerpräsidentin gegeben.

Und ich habe ihren Namen vergessen.

Ich bestelle beim Servicepersonal einen Latte macchiato auf Kosten der Bahn, KL sei Dank. Schließlich hat er das Ticket bezahlt, das ich bei meiner Bestellung noch einmal vorzeigen muss. Die Bedienung gibt mir den Rat, mich über den aktuellen Verspätungsstand auf einem Extramonitor zu informieren. Inzwischen sei der ICE nach Kiel über Hamburg voraussichtlich fünfundvierzig Minuten zu spät. Auch die Frau mir gegenüber horcht auf. Offenbar wartet sie auf denselben Zug. Doch das Lächeln unter Leidensgenossen, das ich ihr zuwerfe, geht ins Leere. Ihr Blick gilt zwei Männern Mitte vierzig, die auf sie zukommen, gefolgt von einem Fotografen mit Kamera und Stativ.

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