Junger Wind in alten Gassen by Lise Gast

Junger Wind in alten Gassen by Lise Gast

Autor:Lise Gast [Gast, Lise]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Saga
veröffentlicht: 2016-04-21T00:00:00+00:00


* * *

Fräulein Dr. Menzel ist abgereist. Rose und Tante Troll sitzen im Sprechzimmer. Vaters Schreibtisch steht mitten im Raum. Rose sitzt auf der einen Seite, die Wangen in die Fäuste und die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt. Tante Troll auf der anderen. Sie sehen sich an, senken gleichzeitig die Augen und starren auf das grüne Löschblatt, das hier liegt, und auf dem Vater seine Rezepte auszuschreiben pflegte. Keiner sagt etwas. Beide denken dasselbe: Was nun?

„Da war doch noch eine Adresse. Irgendeiner“, sagte Rose schließlich schwach. Sie muß sich immer wieder zurückrufen, ihre Gedanken laufen dauernd andere Wege. Trostlose, verängstigte und traurige Wege freilich auch diese.

„Ja. Hier ist die Telefonnummer. Ein Dr. Markus, soviel ich mich erinnere.“ Tante Troll kramt zwischen den Papieren, die sich rechts von ihr auf dem Schreibtisch türmen. Rose nimmt den Zettel und streckt die Hand nach dem Telefon aus. Ihr Arm ist im Schultergelenk wie abgeschlagen, sie hat das Gefühl, den Hörer nicht heben zu können. Tante Troll sieht sie mitleidig an und nimmt ihn dann mit einer raschen Bewegung selbst. Rose läßt es geschehen.

Tante Troll spricht. Ihr Gesicht, vorher merkwürdig erstarrt und wie aus Holz geschnitzt, belebt sich. Als sie aufgelegt hat, kommt sie um den Schreibtisch herum, klemmt sich auf den Stuhl neben Rose und legt ihren Arm um die jungen Schultern. So etwas tut sie sonst nie. Rose fühlt ihr Herz ganz leicht beben. Ein Mensch ist ihr nahe, sekundenlang. Dann ist es schon wieder vorüber.

Tante Troll hat sich aufgerichtet. Sie schüttelt Rose ein wenig und sagt:

„Er kommt. Hauptsache. Ich weiß nicht, was uns jetzt noch passieren kann. Auf, los! Wenn es diesmal nicht klappt!“

Diesmal muß es klappen, das ist allen klar. Rose und Josi haben sich vorgenommen, nicht nur die Praxis, sondern das ganze Haus in einen Zustand zu versetzen, der als geradezu hinreißend und einmalig sauber zu bezeichnen sein wird. Sie arbeiten verbissen und ohne aufzusehen. Richard kommt sich recht verloren vor inmitten dieser Putzteufeleien. Er wird von Rose anscheinend überhaupt nicht wahrgenommen.

Am Abend verliert er die Geduld. Es ist nicht erhebend, einen ganzen Tag lang übersehen zu werden.

„Nun mach doch mal eine Pause. So geht das nicht weiter“, sagt er, als er Rose einmal erwischt, als sie allein ist. Sie putzt soeben die Spiegelscheibe im Sprechzimmer mit Sidol. Ohne hineinzusehen übrigens. Ach, hätte sie doch! Dann hätte sie im Spiegelbild Richards Augen gesehen, die nach den ihren suchen, bittend, warm und herzlich.

„Rose!“ sagt er weich, als sie schweigt. Genau so weich klang seine Stimme, als er heute nachmittag auf Sö einsprach. Genau so weich, so zärtlich und besorgt.

„Geh zum Teufel! Geh! Geh! Ich will nicht – warum bist du noch nicht fort? Geh zu Sö, oder wohin du willst! Ich will dich nie wieder – nie wieder –“

Rose hat sich umgedreht. Sie sieht sein Gesicht jetzt vor sich, ganz nahe und groß, sein junges Gesicht mit den lustigen Nasenlöchern und den ein wenig umschatteten Augen. Geliebtes, geliebtes Gesicht – einen Augenblick erkennt sie es deutlich wie eine Großaufnahme im Film, mit jedem kleinsten Zug, dann verschwimmt es.



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