Jochen oder Die Nacht des Hasen by Gantenberg Michael
Autor:Gantenberg, Michael
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Knaus Verlag
veröffentlicht: 2013-02-14T16:00:00+00:00
Kapitel 10
»Lange nicht gesehen«, sagte Alex und grinste Jenny auf eine Weise an, die Nils nicht gefallen konnte. Wenn es bei Hasen so etwas wie ein Grinsen gäbe, wäre dieses Grinsen für uns der Grundstein für einen mittelschweren Aggressionsschub gewesen. Hasen grinsen nie, sie lächeln noch nicht einmal. Deshalb sind wir immer auf alles vorbereitet, auf die gute Absicht, aber auch auf die schlechte, weil man in unserem Gesicht weder die eine noch die andere Absicht erkennen kann. Welche Absicht nun genau hinter Alexâ Grinsen steckte, konnte ich nicht wissen, aber alles, was ich über das Grinsen von Menschen gelernt und gelesen hatte, lieà mich aufmerksam sein.
»Findest du?«, konterte Jenny, ohne auf das Grinsen zu reagieren.
Die beiden konnten sich schon damals nicht leiden. Für Alex war Jenny eine verwöhnte Zicke und er für sie ein durchgeknallter Freak. Er hatte wohl einmal versucht, sie anzumachen, ohne Erfolg, weil er auf einer Oberstufenparty groÃe Anteile halb verdauten Grillguts und Salatreste auf ihrem neuen Kleid verewigte. Sie hatte ihm aus Wut diverse Tiernamen geschenkt, er ihr nur einen: Zicke!
Auch wenn ich damals nicht unmittelbar dabei war, die Erzählungen von Nils und diverse Gespräche, die ich im Garten mitverfolgen konnte, lieÃen keine anderen Schlüsse zu.
Während Alex seine beiden Kurierräder zur Seite schob, um wenigstens mir und Jenny einen Platz zum Sitzen zu verschaffen, blieb Nils stehen. Direkt neben Jenny. Um sicherzugehen.
»Wann kommt Marie?«
»Die gibtâs auch noch?«, fragte Jenny.
»Soll sie sich aufgelöst haben, oder wie?«, schoss Alex forsch hinterher.
»Beruhig dich mal, ich hätte einfach nicht gedacht, dass die freiwillig hiergeblieben ist«, versuchte Jenny die Situation zu entspannen.
»Sie weià noch nicht, was sie machen will«, verteidigte Nils den Entschluss von Marie, an einem Ort zu bleiben, der für jeden jungen Menschen offensichtlich so unattraktiv war, dass man sich einen freiwilligen Aufenthalt kaum vorstellen konnte. Dass sowohl Alex, Nils und auch ich uns nie mit Abwanderungsgedanken beschäftigt hatten und Jenny im Grunde die Einzige war, die ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatte, musste ihr aufgefallen sein. Thematisiert hatte sie es nicht, stattdessen lag ihre Hand auf meinem Rücken, was eine Reaktion bei mir provozierte, die ich für mich behielt â und brav auf dem Bauch liegen blieb.
»Tut mir leid, ich musste ⦠oh, Jenny, was machst du hier?«
Marie war erschrocken, als sie die in der Ferne Vermutete sah, und entspannte sich nur dadurch ein bisschen, dass Nils nicht direkt neben ihr auf dem alten Sperrholzsofa saÃ, sondern noch immer stand und ihr statt Jenny freundlich zulächelte.
»Jenny, Marie, Nils! Können wir vielleicht mal anfangen?«, blaffte Alex ungeduldig in die Runde.
»Wir warten noch auf Paul«, sagte Nils.
»Warum das denn? Ich hab keinen Bock mehr auf die Schlaftablette, dann muss er mal ân bisschen schneller in die Puschen kommen, wir sind doch keine Rentnergang.«
Niemand antwortete ihm.
»Was sagst du denn, Jochen?«
»Um was gehtâs denn?«, fragte ich. Und ich wusste es wirklich nicht, meine Aufnahmebereitschaft war auf ein Minimum reduziert. Meine Gedanken kreisten nur noch um ein Thema. Um das Thema, mit dem ich mich seit meiner Geburt bislang leider immer nur theoretisch beschäftigt hatte.
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