Jenseits von Kohle und Stahl (German Edition) by Raphael Lutz

Jenseits von Kohle und Stahl (German Edition) by Raphael Lutz

Autor:Raphael, Lutz [Raphael, Lutz]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2019-05-12T16:00:00+00:00


Großbritannien: Arbeiterbiographien zwischen Katastrophe und Umbruch

Wenn wir nun nach Großbritannien schauen, müssen wir als Erstes festhalten, dass die britische Industrie in den drei Jahrzehnten zwischen 1970 und 2000 noch mehr Arbeitsplätze und Marktanteile verlor als die französische oder westdeutsche Konkurrenz. Konkret verschwanden zwischen 1972 und 1992 2,3 Millionen Arbeitsplätze, jeder vierte Arbeitsplatz in den Sektoren Bau, Bergbau und produzierendes Gewerbe war betroffen. Zwischen 1992 und 2002 gingen dann nochmals 544 ‌000 Stellen verloren, was einen Rückgang von 13 Prozent gegenüber dem dramatischen Niveau von 1992 bedeutete. 427 Das Risiko, seinen industriellen Arbeitsplatz zu verlieren, war in Großbritannien etwa doppelt so hoch wie in Frankreich und Westdeutschland. Massenarbeitslosigkeit breitete sich in den 1980er Jahren in vielen Industrieregionen des Landes aus. Britische Arbeiterinnen und Arbeiter sahen sich mit einem ebenso unerwarteten wie langanhaltenden Umbruch konfrontiert, dessen direkte Folgen ein Teil von ihnen in Form von Einkommensrückgang, Arbeitsplatzverlust oder Arbeitslosigkeit erlebte. Angesichts der großen regio 321 nalen Schwankungsbreite britischer Löhne und Einkommen sind Durchschnittswerte wenig aussagekräftig. Je nach Berechnungsmodus stagnierten die in der Industrie gezahlten Bruttostundenlöhne zwischen 1972 und 1992 real oder wuchsen moderat um circa 1,3 Prozent jährlich. 428 Auch für britische Industriearbeiter waren die Zeiten großer Wohlstandsvermehrung vorbei; für die meisten ging es um die Sicherung des Status quo.

Mit Blick auf die Arbeitsbiographien stand reorientation auf der Tagesordnung, und viele ehemalige Industriearbeiter wurden zu Quereinsteigern in den allmählich nachwachsenden Servicejobs. Auch in Großbritannien zahlten zunächst die jugendlichen Berufseinsteiger aus Arbeiterhaushalten den Preis dafür, dass Arbeitsplätze in der Industrie mehr oder weniger ersatzlos verschwanden. Entsprechend hoch waren die Quoten der Jugendarbeitslosigkeit, zumal hier viel später als in Frankreich das allgemeine Bildungssystem geöffnet wurde und berufliche Weiterqualifikationen und Umschulungen angeboten wurden. Auf dem Höhepunkt dieser Arbeitsmarktkrise, Ende der 1980er Jahre war die Hälfte der 16- bis 18-Jährigen arbeitslos oder in Youth Training Schemes , also Berufs- beziehungsweise Beschäftigungsprogrammen für Schulabgänger, untergebracht (siehe Abb. 6.1). 429

Ganz ähnlich wie in Frankreich und – wie wir noch sehen werden – in der Bundesrepublik bedeuteten Werksschließungen und Entlassungen vor allem für viele ältere Stahlarbeiter und Bergleute meist auch das Ende ihrer Erwerbstätigkeit. Längere Krankschreibungen, Langzeitarbeitslosigkeit und Frühverrentungen standen für viele über 50-Jährige am Ende ihrer »Maloche«. Entsprechende Sozialpläne für die britische Stahlindustrie eröffneten diesen Weg seit 1977. 430 Im Bergbau verloren zwischen 1985 und 2000 mehr als 175 ‌000 Menschen ihren Arbeitsplatz, die Hälfte von ihnen 323 blieben beschäftigungslos, wurden chronisch krank, Invaliden oder Frührentner, andere fanden Teilzeitbeschäftigungen, und nur eine Minderheit fand im ersten Jahrzehnt nach der Entlassungswelle wieder einen Vollzeitjob. 431 Eine Studie zu den Bergarbeiterregionen in Yorkshire kommt zu dem Ergebnis, dass in der Mitte der 1990er Jahre 40 Prozent der ehemaligen Bergleute unter 65 arbeitslos, krank oder im Vorruhestand waren. 432 Ein ehemaliger Bergmann und aktiver Unterstützer des Streiks von 1984/85 bemerkte zu dieser Situation in einem Interview: »Maggie Thatcher hat die Zechen geschlossen, wohl wahr, aber ich denke, sie hat mein Leben gerettet. Ich war 51, als ich aufgehört habe, und ich wäre weitere 15 Jahre unter Tage gewesen, wenn die Zechen weiter geöffnet geblieben wären.



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