Jahrhundertsommer by Biltgen Raoul

Autor:Biltgen, Raoul [Biltgen, Raoul]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783950399189
Herausgeber: Verlag Wortreich
veröffentlicht: 2015-10-06T16:00:00+00:00

In dieser Nacht schlief er seltsam ruhig. Er schlief den Schlaf eines Menschen, der keine Träume mehr zu befürchten hatte. Zuvor hatte er sich oft ausgemalt, wie es sein würde, wenn sie von seinem Tod erführe, wie sie reagieren würde, ob es ihr leid täte. Ob ihr Lächeln aus ihrem Gesicht verschwinden und sie um ihn weinen würde.

Sie würde um ihn weinen. Sie musste um ihn weinen. Welcher Mensch müsste denn nicht weinen um denjenigen, den er soweit gebracht hatte, sich selber umzubringen? Sie würde es tun, sie hatte ihn so weit gebracht. Wieder war sie es, die ihn, ein letztes Mal, zu etwas gebracht hatte, das er ohne sie nie getan hätte. Doch jetzt war sie weg. Sie war weg.

Es schmerzte sehr, dass er sie nicht mehr angetroffen hatte, aber in seinem Bild seines Todes war sie nicht mehr vorhanden, da war plötzlich nur mehr er, allein.

Er schloss die Tür auf und wurde von der Kugel, die in seine Brust drang, nach hinten geschmettert, er flog in den Flur, fiel auf den Rücken, dort lag er dann, war vielleicht noch ein paar Sekunden bei Bewusstsein, sah mit glasigen Augen auf die Decke, die er bisher nie in Augenschein genommen hatte, sah das erste Mal in seinem Leben die Deckenleuchte und wunderte sich vielleicht, dass sie gerade so aussah, wie sie aussah und wie er es nicht vermutet hätte, dann schloss er ganz sanft seine Augenlider und war tot. Sein Körper lag da und war tot. Er war tot. Alleine. Tot. Nachbarn stürmten aus ihren Wohnungen, aufgeschreckt durch den lauten Knall, und waren entsetzt über die Tat, erschreckt, sie flüchteten wieder zurück und verbarrikadierten sich hinter ihren Türen, weil sie natürlich nicht an einen geplanten Suizid glauben wollten, sondern an Mord und Totschlag.

Sie riefen mit zittriger Stimme die Polizei, flüsterten die Polizei herbei, um nicht auf sich aufmerksam zu machen, um die Aufmerksamkeit des mutmaßlichen, bestialischen Mörders nicht auf sich zu lenken. Und die Polizei kam und sicherte das Gebäude und entdeckte seine Vorrichtung und gab Entwarnung, so dass die Sanitäter zu ihm gelangten, um seinen Tod festzustellen, und dann schüttelten sie die Köpfe, was für ein Aufwand, was für ein Aufwand, meingott, können denn die müden lebensmüden Menschen nicht mehr einfach vom Donauturm springen oder in die Donau und sich fortspülen lassen bis ins schwarze Meer, das unergründliche und ferne, wo sich andere um die Verwahrung faulender und von Fischen angenagter Körper kümmern könnten?

Nachdem man seine Leiche weggeschafft und sein Blut von den Wänden, der Tür und dem Boden geputzt hatte, kam er in die Nachrichten und bei seinem Begräbnis standen seine Freunde und Bekannten, die er in letzter Zeit ebenso sehr vernachlässigt hatte, wie sie ihn, und es tat ihnen leid, und einige Zeitungsartikel über die Leichtigkeit, an Schusswaffen zu kommen, und natürlich die Isolation in der Großstadt wurden geschrieben und erschienen in den Tageszeitungen des Landes und wurden von mitdenkenden Bürgern in Leserbriefen kommentiert. Und dann wurde er vergessen. Und bei all dem war sie nicht mehr dabei.

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