Ivo Andric by Die Brücke über die Drina

Ivo Andric by Die Brücke über die Drina

Autor:Die Brücke über die Drina
Die sprache: deu
Format: mobi
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Sarajewo und Bosnien,

Jeder Mutter Herz muß bluten,

Wenn sie ihren jungen Sohn

Schickt dem Kaiser als Rekruten.

Das Lied rief noch stärkeres Weinen hervor.

Als sie endlich irgendwie die Brücke überschritten hatten, auf der sich der ganze Zug verwirrte, und auf den Weg nach Sarajewo gekommen waren, erwartete sie auf beiden Seiten in langer Reihe die Stadtbevölkerung, die hinausgegangen war, um den Rekruten das Geleit zu geben und sie zu beweinen, als führe man sie zum Erschießen. Und hier beweinte sie manche Frau, obgleich sie unter den Scheidenden niemand der ihrigen hatte. Denn jede hatte etwas, worüber sie weinen konnte, und am süßesten weint es sich um fremden Kummer.

Aber nach und nach wurden diese Reihen immer dünner. Auch einzelne der Bäuerinnen blieben zurück. Am hartnäckigsten waren die Mütter, die neben dem Zug herliefen wie fünfzehnjährige Mädchen, die Gräben neben der Straße von einer Seite zur anderen übersprangen und versuchten, die Gendarmen zu täuschen und in möglichster Nähe ihres Kindes zu bleiben. Die Burschen sahen dies, wandten sich um, bleich vor Aufregung und einer gewissen Scham, und riefen ihnen zu:

»Nun geh schon nach Hause, wenn ich es dir doch sage!«

Aber die Mütter folgten noch lange, blind für alles, außer für ihren Sohn, den man fortführte, und ohne auf etwas anderes zu hören als ihr eigenes Weinen.

Dann waren auch diese erregenden Tage vorüber. Die Leute verstreuten sich wieder auf ihre Dörfer, und in der Stadt wurde es ruhig. Als aber die ersten Briefe und die ersten Bilder der Rekruten aus Wien eintrafen, wurde alles leichter und erträglicher. Die Frauen weinten lange über diesen Briefen und Bildern, aber leichter und ruhiger.

Das Streifkorps wurde aufgelöst und verließ die Stadt. Auf der Kapija stand schon seit langem keine Wache mehr, sondern die Leute saßen dort wieder, genau wie sie auch vorher dort gesessen hatten.

Schnell vergingen die zwei Jahre. Und in diesem Herbst kehrten wirklich die ersten Rekruten zurück, sauber, geschoren und gut genährt. Die Leute versammelten sich um sie. Sie aber erzählten vom Soldatenleben und der Größe der Städte, die sie gesehen, und mischten dabei in ihr Gespräch ungewöhnliche Namen und fremde Ausdrücke. Bei der Aushebung des neuen Jahrganges gab es schon weniger Tränen und Aufregung.

Überhaupt wurde alles leichter und gewohnter. Eine Jugend wuchs heran, die keine klaren und lebhaften Erinnerungen mehr an die Türkenzeit besaß und schon in vielem die neue Lebensform angenommen hatte. Aber auf der Kapija lebte man nach den alten Gewohnheiten der Stadt. Trotz der neuen Art, sich zu kleiden, trotz den neuen Berufen und Geschäften, wurden sie dort in ihren Gesprächen, die für sie ein wahres Bedürfnis des Herzens und der Phantasie waren und blieben, wieder zu Wischegradern, wie sie es seit ewigen Zeiten gewesen. Die Rekruten zogen ohne Aufruhr und Gedränge ab. Von den Hajduken hörte man nur noch in den Erzählungen der Älteren. Die Streifkorpswache wurde ebenso vergessen wie die einstige türkische, als das Blockhaus auf der Kapija stand.



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