Ins Nordlicht blicken by Cornelia Franz

Ins Nordlicht blicken by Cornelia Franz

Autor:Cornelia Franz [Franz, Cornelia]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3423249390
Herausgeber: DTV Deutscher Taschenbuch
veröffentlicht: 2012-09-30T22:00:00+00:00


MS Alaska, Hafen von Nuuk, Frühjahr 2011

Mir war übel, kotzübel. Das Geschaukel der Kiste, als sie an Bord gerollt wurde, das Schwanken des Schiffes, die elende Enge, bei der ich mir die Oberschenkel in den Magen presste, der grässliche Geruch, den auch Maalias Gewische nicht hatte verhindern können. Aber das war nichts im Vergleich zu der Angst, die in mir hochkroch. Ich lauerte darauf, ob noch jemand in der Nähe war und durch irgendetwas Verdacht geschöpft hatte. Dann erstarben die Stimmen um mich herum und ich konnte endlich die Styroporkorken herausdrücken. Aber es nützte nichts. Ich bekam kaum noch Luft. Sie hatten die verdammte Kiste zwischen andere geschoben und offensichtlich noch ein paar obendrauf gestellt. So sehr ich auch drückte, der Deckel bewegte sich keinen Zentimeter. Es war stockfinster. Ich steckte fest und der Gestank der toten Robben, die hier vor mir zerstückelt und zusammengepresst gelegen hatten, machte mich wahnsinnig. Ich versuchte, an mein Taschenmesser zu kommen, doch es lag unter mir, ich kam nicht ran. Mein Gott, war ich dumm gewesen! Ich bohrte das Luftloch größer, ich zerfetzte das Styropor mit den Nägeln, aber da war nur eine weitere Styroporwand. Das Handy! Ich fingerte das Handy heraus. In meinem Kopf tobte ein Trommeltanz. Ich muss Hilfe holen, irgendjemanden anrufen! Aqqaluk! Aber wie soll Aqqa mir hier raushelfen? Sven! Er muss diesen Grönemeyer anrufen! Svens Nummer, warum passiert nichts, nur die Scheißmailbox springt an. Warum geht er denn nicht ran? Mein Herz raste und ich schrie.

Mit diesem Schrei verlor ich die Kontrolle, ich drehte durch. Ich scharrte wie ein Tier mit den Klauen, ich brüllte und würgte und röchelte, ich rang nach Luft, mein Kopf zerplatzte, mein Blut raste, ein Strudel riss mich mit sich, ein rauschendes Nordlicht, ein wildes Trommeln. Gib auf, Pakku! Komm! Ich sank tiefer und tiefer, komm, Pakku, komm ... Ich flog über das Meer und das große eisige Land, immer langsamer flog ich, immer kälter wurde mir, so viel Weiß, so viel Schnee. Ich breitete die Arme aus, gleich würde ich ankommen, gleich war ich frei.

Dann schlug ich auf. Etwas riss mich zurück. Eiskaltes Wasser, Gletscherwasser. Das Rauschen im Kopf war wieder da, die Übelkeit, das Würgen. Jemand packte mich an den Schultern und schüttelte mich.

»Wake up! Wake up, verdammt noch mal!«

»Das Eis ... ich hab’s gesehen ... lass mich ...« Ich sah in ein verzerrtes weißes Gesicht, das Gesicht eines Mannes, den ich nicht kannte. Ich schloss die Augen wieder. Ich war ihm nicht dankbar. Er sollte mich in Ruhe lassen. Mir war so kalt. Warum ließ er mich nicht in Ruhe?

»Wach auf, du Scheißkerl!«

Ja, Scheißkerl. Wieder packte er mich, wieder schüttete er mir kaltes Wasser über den Kopf, sodass ich nach Luft schnappte.

»Sag was! Kannst du mich hören? Ist alles okay?« Er zog mich ein Stück vom Boden hoch. »Sieh mich an, du Idiot! Wie bist du in diese Kiste gekommen? Wer bist du?«

Ich machte die Augen auf, öffnete den Mund und brachte nur ein Flüstern heraus. »Pakku.«

Sein verschwommenes Gesicht war direkt vor meinem.



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