In England – Ostpreußen – Südösterreich. Gesehenes und Gehörtes 19141915 by Arthur Holitscher

In England – Ostpreußen – Südösterreich. Gesehenes und Gehörtes 19141915 by Arthur Holitscher

Autor:Arthur Holitscher [Holitscher, Arthur]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-943889-28-4
Herausgeber: Elektrischer Verlag
veröffentlicht: 2015-05-16T16:00:00+00:00


Die Utopie

September 1915, Berlin

Eines dürfen wir nie, nie wieder vergessen: dass wir uns in diesen Tagen mit Riesenschritten der sozialen Utopie genähert haben. Dass wir hierzulande heute einen Zustand der Verbrüderung erleben, dessen Kommen und Eintritt vor Wochen noch der wildeste Phantast nicht hätte für möglich gehalten. Wer die Menschennatur durch alle benebelnden Phrasen und durch das Gewölk des Augenblickes hindurch zu betrachten gewohnt ist, und heut noch zu betrachten vermag, wird die Ursache dieses Zustandes, dieser Gesinnung in der gemeinsamen Not, Bedrängnis und Hoffnung erkennen. In Friedenszeiten fällt der eine über den anderen her, weil in der Menschennatur der Trieb zur Herrschaft über den Nächsten, zum Niederstoßen des Nächsten, wenn auch nicht dominiert, so doch in beträchtlichem Quantum vorhanden ist. Diesen Trieb haben wir, die wir innerhalb unserer bedrängten Landesgrenzen leben, wie alle die anderen Nationen auch, jetzt in vollem Maße nach außen projiziert; aus tausend Kanonenmündern schießt dieser Trieb den feindlichen Mitmenschen jenseits der Grenze über den Haufen. Es ist ein ungeheures, wunderbares Erlebnis, zu sehen, wie die gemeinsame Sache die schutzbedürftigen, hoffnungsbedürftigen Menschen eng aneinander treibt, sie verbrüdert und verschwistert – aber vergessen wir es keinen Augenblick, dass die Höhlenbewohner der Bronzezeit dieses Bedürfnis der Verbrüderung ebenso innig und gebieterisch empfunden, ihm ebenso willig Raum gegeben haben wie wir Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Renan behauptet, die Moral mache keinen Fortschritt – und wir, die wir Kunde von der Entwicklungsgeschichte der Erde haben, dürfen sagen: Die Spanne, die unser Jahrhundert von der Bronzezeit trennt ist ein kurzer Augenblick – ein Wimpernzucken des allmächtigen, ewigen Gottes, der diese Welt der Qual und des Irrtums erschaffen hat. Trotzdem bleibt Renans Wort ein feines Paradox und nichts weiter.

Sehen wir uns den Nächsten an, der unsere Schlachten für uns schlägt und unsere Siege bereitet, und sehen wir uns unseren Nächsten an, dem wir helfen, dass er essen könne und sein Leben friste über die schreckliche Zeit hinaus, die wir alle durchleben. Sehen wir uns den ins Feld ziehenden Wehrmann an, der unser Schicksal in den Händen hält, und sehen wir uns das kleine Kind des Arbeitslosen an, mit dem wir unsere Nahrung teilen. Sehen wir uns auf der Straße nach Menschen um, die sich um ein noch feuchtes Zeitungsblatt zusammenrotten, und blicken wir durch die Fensterscheibe zu dem Manne hinein, dessen Feder in beschwingter Eile Hoffnung und Zuversicht für Hunderttausende auf das Papier streut. Wir alle leben in diesen Tagen von allen und mehr denn je für alle. Ja, wir alle, eingefasst und umgeben von den Grenzen dieses geheimnisvoll mächtigen, wundertiefen, allen Strömen der Gerechtigkeit und Erhebung zugänglichen und offenen Landes, gegen das die Scharen der Welt heranrücken, wir alle hier innen leben heut für alle.

Wer wird noch aufgeblasen und verrottet genug sein, eine höhnische Miene aufzusetzen, wenn ich vor ihn hintrete mit ausgestreckter Hand und zu ihm spreche: Bruder, mein Bruder! (O es gibt welche, ich weiß es, und gegen die wird meine Faust geballt und schlagbereit bleiben über den Krieg hinaus und solange ich Muskelkraft in meinem Arm habe, um die



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