Im Spiegel der Venus by Unknown

Im Spiegel der Venus by Unknown

Autor:Unknown
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Heyne
veröffentlicht: 2024-01-16T00:00:00+00:00


ANAÏS NIN

Linda

Linda stand vor dem Spiegel und betrachtete sich kritisch – am hellichten Tag. Sie hatte die Dreißig überschritten und machte sich Sorgen wegen ihres Alters, obwohl es nichts gab, das ihre Schönheit hätte beeinträchtigen können. Sie war schlank, sie sah jung aus. Sie konnte jeden ohne weiteres über ihr Alter täuschen, nur sich selbst nicht. Nur sie glaubte zu wissen, daß ihr Fleisch nicht mehr so straff wäre, es hätte ein wenig von der marmornen Glätte, die sie so oft im Spiegel bewundert hatte, verloren. Dabei wurde sie keineswegs weniger geliebt. Im Gegenteil: Sie besaß jetzt eine Anziehungskraft auf alle diejenigen unter den jüngeren Männern, die überzeugt waren, daß nur eine reifere Frau sie in die Geheimnisse der Liebeskunst einweihen könnte; Mädchen ihres eigenen Alters, glaubten sie, wären zurückgeblieben, naiv, unerfahren und stets unter dem wachsamen Auge ihrer Familienangehörigen.

Lindas Mann, ein gutaussehender Vierziger, hatte sie jahrelang mit der Inbrunst eines jugendlichen Liebhabers geliebt. Daß nun jüngere Männer Linda bewunderten, schien ihm nichts auszumachen. Er war überzeugt, sie nähme sie nicht ernst, er dachte, ihr Interesse entstammte ihrer Kinderlosigkeit und dem Bedürfnis, sich mütterlich jungen Menschen zuzuwenden, deren eigentliches Leben gerade begonnen hatte. Dagegen stand er selbst in dem Ruf, sich an Frauen aller Klassen und jeder Art heranzumachen. Sie dachte oft an ihre Hochzeitsnacht zurück, in der sich André als ein höchst rücksichtsvoller Geliebter gezeigt hatte. Er hatte buchstäblich jeden Fleck ihres Körpers angebetet, als sei er ein Kunstwerk. Er hatte sie berührt, er hatte sie bewundert und ihr geschmeichelt, er war entzückt über ihre zierlichen Ohren, ihre wohlgeformten Füße, ihren schlanken Hals, ihr üppiges Haar, ihre feingeschnittene Nase, ihre sanften Wangen, ihre wollüstigen Schenkel. Sein Geflüster, seine Stimme, sein Streicheln öffneten ihr Fleisch, wie eine Blume sich der Wärme und dem Licht öffnet.

Er machte aus ihr ein vollkommenes Instrument der Liebe, das bei jeder Art von Zärtlichkeit vibrierte. So brachte er ihr zum Beispiel bei, ihren Körper nur mit Ausnahme des Mundes einzuschläfern und all ihre Sinnlichkeit im Mund zu konzentrieren. Sie war jedesmal wie eine halb betäubte Frau und lag völlig passiv da. Ihr Mund und ihre Lippen waren zum Geschlechtsorgan geworden.

André war besessen vom weiblichen Mund. Wenn er auf der Straße ging, hielt er Ausschau nach Frauenmündern. Er sah im Mund ein Abbild der Vagina. Waren die Lippen schmal, verkniffen, dann bedeutete das auch keine offene, sinnliche Möse. Waren sie dagegen voll, versprachen sie auch eine großzügige Muschi. Feuchte Lippen verfolgten ihn. Ein Mund, der sich nach außen stülpte, der geöffnet war wie für einen Kuß – dem stellte er beharrlich nach, bis er die Frau, zu der er gehörte, nehmen und wieder einmal seine Überzeugung von den verräterischen Eigenschaften des weiblichen Mundes unter Beweis stellen konnte.

Es war Lindas Mund, der ihn von Anfang an gefangengenommen hatte. Er war pervers, er war wie schmerzlich verzerrt. In der Art, wie sie ihn bewegte, wie sie ihre Lippen leidenschaftlich entfaltete, war etwas, das einen Menschen verriet, der wie ein Sturmwind über den Geliebten hinwegfegen würde. Als er ihr



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