Ihr werdet schon sehen! by Karen Finneyfrock

Ihr werdet schon sehen! by Karen Finneyfrock

Autor:Karen Finneyfrock
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: dtv
veröffentlicht: 2014-11-15T00:00:00+00:00


Als ich acht war und Dora dreizehn, kam sie mit meiner Tante und meinem Onkel an Weihnachten zu Besuch. Im Sommer davor hatte sie an einem Feriencamp zum Thema »Kunst als soziale Bewegung« teilgenommen, was sie politisch sehr geprägt hat. Sie schnitt sich die Haare kurz und fing an, als modisches Statement Krawatten zu tragen. Dora ist von Natur aus sehr hübsch, sodass selbst ein schlechtes Styling gut an ihr aussieht.

Ich stand damals auf Barbies. Ich besaß eine Sammlung von fünfundzwanzig Puppen und außerdem ein Barbie-Haus, einen Barbie-Lieferwagen, ein Barbie-Auto, unzählige Behältnisse für Barbie-Kleider und eine tragbare Barbie-Kleiderkammer. Stundenlang saß ich in meinem Zimmer und spielte damit. Alle Puppen hatten ihre eigene Geschichte und sie hatten viel miteinander erlebt. Oft ging es in ihren Gesprächen darum, dass es zu wenig Kens gab.

Zu Weihnachten schenkten mir meine Eltern drei neue Barbies. Eine war ein Strandmädchen, das mit den Füßen in Flipflops schlüpfen konnte und vier verschiedene Badeanzüge hatte. Die zweite trug Ballkleider und ging in die Oper. Sie war mit einem Opernglas und mit einer Nerzstola ausgestattet. Die dritte Barbie war eine Geschäftsfrau im Hosenanzug. Sie kam mit Schreibtisch und Bürostuhl. Als wir am Weihnachtsmorgen unsere Geschenke ausgepackt hatten, gingen Dora und ich in mein Zimmer.

Dora hatte sich zu Weihnachten nur Bücher gewünscht. Sie konnte ihre Geschenke also übereinanderstapeln. Ich hatte meine neuen Barbies auf meinem Bett abgelegt. »Schau genau hin, Celia!«, sagte Dora und zeigte auf den Berg aus Kunsthaar und Plastikkörpern. »Schau, wie die Gesellschaft ihren Kindern Geschlechterstereotypen aufzwingt!«

Ich schaute hin. Und ich sah nur Barbies.

»Wenn du ein Junge wärst, dann hätten sie dir einen Spielzeuglaster und eine Rennbahn geschenkt. Aber du bist ein Mädchen und deshalb gehen sie davon aus, dass du ein Puppenhaus magst und dass du gern mit Puppen spielst und sie an- und ausziehst.«

»Aber ich spiele wirklich gern mit …«, versuchte ich zu sagen, aber Dora unterbrach mich.

»Celia, ich glaube, es ist Zeit, dass wir uns positionieren«, erklärte sie und beschloss, dass wir alle Barbies, die alten genau wie die neuen, in einer Schachtel ganz hinten in meinem Schrank verstauten. (Eigentlich wollte sie, dass wir sie zusammenpackten und verschenkten, aber ich konnte sie noch auf den Schrank herunterhandeln.) Es war echt viel verlangt, vor allem, weil ein Teil der Barbies nagelneu war, aber Dora schien diese Sache sehr wichtig zu sein, und sie war die einzige Verwandte, die wenigstens annähernd so alt war wie ich. Sie wirkte auf mich so viel klüger, dass ich nachgab.

Am Abend zum Weihnachtsessen trugen wir beide dann Klamotten, die sie für »geschlechtsneutral« hielt, also eine Jeans und ein weißes T-Shirt. Meine Mutter hatte Braten und Kartoffelpüree gekocht. Als frisch erklärte Vegetarierin aß Dora aber nur ein getoastetes Käse-Sandwich und ein paar Karottensticks. Sie sah mich immer wieder eindringlich an und stupste mich schließlich unter dem Tisch.

»Ich hab’s mir überlegt«, verkündete ich. Die ganze Familie starrte mich an, als ich zu meiner Erklärung anhob, die wir zusammen geübt hatten. »Ich habe beschlossen, dass ich nicht mehr mit Barbies spielen möchte.« Ich versuchte, überzeugt zu klingen.



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