Idyllen in der Halbnatur by Wilhelm Genazino
Autor:Wilhelm Genazino
Die sprache: deu
Format: mobi
ISBN: 9783446241084
veröffentlicht: 2012-06-19T22:00:00+00:00
Die Flucht in die Ohnmacht
Dankrede zum Kleist-Preis
Der 23-jährige Kleist schrieb an seine damals zwanzig Jahre alte Verlobte Wilhelmine von Zenge: »Mädchen! Wie glücklich wirst Du sein! Und ich! Wie wirst Du an meinem Halse weinen, heiße innige Freudenthränen! Wie wirst Du mir mit Deiner ganzen Seele danken! – Doch still! Noch ist nichts ganz entschieden, aber – der Würfel liegt, und, wenn ich recht sehe, wenn nicht Alles mich täuscht, so stehen die Augen gut. Sei ruhig. In wenigen Tagen kommt ein froher Brief an Dich, ein Brief, Wilhelmine, der – – Doch ich soll ja nicht reden, und so will ich denn noch schweigen auf diese wenigen Tage. Nur diese gewisse Nachricht will ich Dir mitteilen: ich gehe von hier nicht weiter nach Straßburg, sondern bleibe in Wirzburg. Eher als Du glaubst, bin ich wieder bei Dir in Frankfurt. Küsse mich, Mädchen, denn ich verdiene es (…)«
Hochtönend wohlmeinende Briefe dieser Art hat Kleist sehr oft geschrieben. Misstrauen in ihren Wahrheitsgehalt war damals noch nicht sehr verbreitet. Ein Mann, der solche Sätze schrieb, durfte glauben, dass sein Leben diesen Sätzen folgen würde. Und wenn eine Verlobte Briefe eines solchen Mannes erhielt, durfte die Verlobte annehmen: dem Mann ist es ernst. Die Herzensergießung, wie blumig auch immer, galt damals als Tatsachenroman. Zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft waren die Menschen dankbar, dass sie überhaupt über ihre Liebe schreiben durften. Aber Kleists Verlobte war skeptischer, das heißt zurückhaltender, wartender, klüger, als von einer Frau ihrer Zeit erwartet werden durfte. Wilhelmine von Zenge hatte eine einfache, schon damals wirksame Methode der Wahrheitsfindung: sie verglich die Pläne ihres Verlobten mit seinen Handlungen. Wie hatte Kleist doch geschrieben? »Eher als Du glaubst, bin ich wieder bei Dir in Frankfurt.« Tatsächlich kehrte Kleist nicht zurück, sondern reiste auf eine Weise, die der Verlobten ziellos erscheinen musste, in Deutschland, Frankreich und der Schweiz umher. Er studierte planlos mal Jura, dann Mathematik, dann die Naturwissenschaften, er drängte in den Staatsdienst und auch wieder nicht, schließlich wollte er Bauer in der Schweiz werden.
Wilhelmine bestürmte ihn, er möge doch bald »in sein Vaterland zurückkehren«, doch Kleist erkannte die Dringlichkeit dieser Bitten nicht oder er ordnete sie anderen Prioritäten unter. Tatsächlich war Kleist in einer Art fliehenden Suche unterwegs, weil er dringend Fingerzeige für seine Biografie suchte. Es gibt Hinweise, dass er von seiner wirren Zukunft als Dichter wusste. Wovon er keine Ahnung hatte – und wovon kein Dichter eine Ahnung hat –, war der Zeitpunkt, wann sich die Dichterei als handlungssteuerndes Element in seiner Biografie endgültig situieren und wann diese sich mit respektablen Werken bemerkbar machen würde. Die Verlobte zog sich innerlich zurück, ließ seltener von sich hören, bis Kleist merkte, Wilhelmine ließ es auf einen Bruch ankommen, der dann auch eintrat. Im Mai 1802 schrieb der nun 25-jährige, jetzt schroff gewordene Kleist an Wilhelmine:
»Ich werde wahrscheinlicher Weise niemals in mein Vaterland zurückkehren. Ihr Weiber versteht in der Regel ein Wort in der deutschen Sprache nicht, es heißt Ehrgeiz. Es ist nur ein einziger Fall in welchem ich zurückkehre, wenn ich
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