Ich bin kein Berliner by Wladimir Kaminer

Ich bin kein Berliner by Wladimir Kaminer

Autor:Wladimir Kaminer [Kaminer, Wladimir]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
veröffentlicht: 2010-11-16T23:00:00+00:00


TIPP:

Um Ihnen das Puzzeln etwas leichter zu machen, ein Ausgehtipp: das Medizinhistorische Museum auf dem weitläufigen Gelände der Charité-Klinik. Dort findet man junge Sirenen und Zyklopen in Spiritus neben alten Zahnbohrern auf einem Seziertisch. Vielleicht lässt sich daraus ja schon etwas Schönes zusammensetzen.

Die kleinste Minderheit von Berlin

Neulich lernte ich einen jungen Tschuktschen in Berlin kennen. Genau genommen einen Luoravetlanen, der eine vorbildliche Karriere gemacht hatte. Seine Eltern, erzählte er mir, seien beide Analphabeten, sie lebten in einem kleinen Dorf auf der Tschuktschen-Halbinsel in der Nähe des Polarkreises und könnten nicht einmal ihren Namen schreiben. Er ging dagegen seinerzeit in Anadir zur Schule, anschließend studierte er an der Universität in Nowosibirsk und wurde dann im Rahmen eines Studentenaustauschs als einer der Besten nach Berlin geschickt. Hier ist Anton mit Sicherheit weit und breit der einzige Tschuktsche beziehungsweise Luoravetlane und repräsentiert damit die mindeste Minderheit der neudeutschen Hauptstadt. Dies wird allerdings von der Öffentlichkeit komplett ignoriert. Anton empört sich deswegen gerne über das allgemeine Medieninteresse an den anderen Minderheiten, die seiner Meinung nach kaum etwas Interessantes zu bieten haben.

»Über das kurdische, russische oder bosnische Leben wird immer wieder berichtet, aber keiner schreibt einen Artikel über Tschuktschen in Berlin, geschweige denn über die Ur-Tschuktschen, die Luoravetlanen: Sie werden in der Presse einfach totgeschwiegen«, schimpfte er.

»Das muss sich ändern«, sagte ich und versprach ihm, eine Geschichte über die Tschuktschen in Berlin zu schreiben. Doch außer ihm habe ich bis jetzt noch keine getroffen, also musste ich Anton interviewen. Zwei Stunden lang haben wir miteinander gesprochen. Während des Gesprächs stellte sich heraus, dass die Tschuktschen in Berlin im Großen und Ganzen wie alle anderen Studenten leben: Mühsam verdienen sie sich ihr Bafög, wohnen in einer WG, und abends gehen sie in die eine oder andere Kneipe. Oft haben die jungen Tschuktschen – Luoravetlanen – bei den Frauen Erfolg, aber noch öfter werden sie abgewiesen. Doch es gibt etwas, was die Tschuktschen von den anderen Berlinern unterscheidet: Einmal im Jahr fahren sie in ihr Heimatdorf zu ihrer Mutter in die Tundra. Dort verbringen sie normalerweise drei Wochen. Alle zweihundert Luoravetlanen im Dorf sind untereinander verwandt. Wie in fast jedem Dorf glaubt eine Hälfte der Bewohner an Jesus Christus, die andere glaubt nur an die eigene Kraft. Außerdem gibt es einen, der glaubt, er wäre selbst Jesus Christus. Die Luoravetlanen befinden sich schon seit einer Ewigkeit am Rande des Aussterbens und stehen deswegen unter der Kontrolle einer UNO-Kommission. Doch diese Kommission kann ihnen nicht ständig hinterherlaufen und sie nachzählen. Sie kommt einmal im Jahr und wundert sich dann, dass die Luoravetlanen schon wieder weniger geworden sind, obwohl die miesen Kommunisten auf Tschukotka längst ausgestorben sind.

Letztes Jahr ist die Luoravetlanen-Population erneut um sieben Seelen kleiner geworden. Die Polizei im Verwaltungszentrum Anadir hatte einen Hinweis bekommen, dass der berühmt-berüchtigte Serienmörder mit dem Spitznamen »Schneemensch«, der jeden Monat aus der Tiefe der Tundra auftauchte und jedes Mal eine Frau mit einer Socke erdrosselte, ein Luoravetlane sei. Der Stammesälteste wollte seinen verdächtigten Landsmann jedoch nicht der Staatsgewalt übergeben und drohte dem Polizeichef mit der UNO-Kommission.



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