Hunger und Seide: Essays (German Edition) by Herta Müller
Autor:Herta Müller [Müller, Herta]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783446249660
Herausgeber: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 2015-02-17T16:00:00+00:00
Diktatoren machen aus dem Wortfeld normal, Norm, Normalität eine Falle. Sie wissen, dass diese Wörter allen ein Bedürfnis sind, weil sie, und sei es auch nur in der Familie oder am Arbeitsplatz in den Gewohnheiten täglicher Handgriffe, Überlegenheit garantieren.
In einem Dokumentarfilm über zwei geflüchtete Frauen aus Sarajevo habe ich gesehen, wie das kleine Schimpfen übereinander, ohne das wir uns nicht einen Tag nahestehen können, tödlich wird. Die eine Frau ist Muslimin, die andere Serbin. Zwei Jahrzehnte arbeiteten sie in der gleichen Fabrik. Sie waren befreundet, wie auch wir mit Menschen befreundet sind, gegen die wir unbedenklich, wie es uns scheint – nur weil wir sie mögen –, unsere kleinen Bedenken äußern. Doch politische Drahtzieher haben diese Beweglichkeit der persönlichen Nähe in den großen Rahmen gespannt. Die rote Haarfarbe der einen, das schlechtgespülte Essgeschirr der anderen, sie werden in diesem Rahmen, der jedes Denken zerreißt, zur Hassmaschine. Dies ist keine Ausnahme, an dieser Beweglichkeit der Nähe zueinander setzen Machtbesessene an, um Systeme zu installieren. Und auf dieser Ebene schüren sie, um uns zu verbiegen, uns einzuteilen in solche, die quälen, und solche, die gequält werden müssen. Jeder Krieg muss mit dem Instrumentarium der Diktatur geführt werden, sonst wäre er nicht zu führen. Deshalb zeigen Aggressoren alles, was Diktatoren hinter dem Vorhang des Friedens verstecken können. Auch Ceauşescu, auch Honecker haben sich dieser, wie es scheint, banalen Beweglichkeit der menschlichen Nähe bedient, um ihre Scharen von Spitzeln und Exekutanten gegen andere Menschen zu treiben. Sie haben eine abnorme »Normalität« installiert und diese ihrer Gefolgschaft als Menschenglück dargestellt, das man im Sinne der vielen bewachen muss, gegen einzelne, die den vielen das Glück zerstören wollen.
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