Hundert Jahre Einsamkeit by Gabriel García Márquez

Hundert Jahre Einsamkeit by Gabriel García Márquez

Autor:Gabriel García Márquez [Márquez, Gabriel García]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 3423102497
Herausgeber: dtv
veröffentlicht: 1967-03-31T23:00:00+00:00


Betört von so vielen, so wundervollen Erfindungen, wußten die Leute von Macondo nicht, wo sie mit Staunen beginnen sollten. So verbrachten sie schlaflose Nächte beim Begaffen der von einer Lichtanlage gespeisten bleichen elektrischen Glühlampe, ein Mitbringsel Aurelianos bei der zweiten Fahrt des Zuges, an dessen aufsässiges Gepuffe man sich nur schwer gewöhnte. Sie empörten sich über die lebenden Bilder, die der wohlhabende Kaufmann Don Bruno Crespi in dem Theater mit den Löwenrachen vorführte, weil eine in einem Filmstreifen verstorbene und beerdigte Figur, über deren Unglück sie kummervolle Tränen vergossen, im nächsten Film quietschlebendig als Araber auferstand. Das Publikum, das zwei Centavos zahlte, um die Schicksalsschläge der Personen zu teilen, ertrug nicht den unerhörten Spott und zertrampelte die Kassenloge. So erläuterte denn der Bürgermeister auf Don Bruno Crespis Drängen in einer Bekanntmachung, das Kino sei eine Illusionsmaschine, die keinen leidenschaftlichen Überschwang der Zuschauer verdiene. Angesichts dieser entmutigenden Erklärung vermuteten viele, sie seien Opfer eines neuaufgelegten Zigeunerschwindels geworden, so daß sie beschlossen, fortan das Kino zu meiden, da sie bereits genügend mit eigenen Sorgen gesegnet waren, um noch geheucheltes Mißgeschick von Phantasiegeschöpfen beweinen zu können. Ähnliches geschah mit den Zylindergrammophonen, die Frankreichs fröhliche Matronen als Ersatz für die altmodischen Drehorgeln herbeischleiften und die der Musikkapelle eine Zeitlang erheblichen Abbruch tun sollten. Zunächst vermehrte die Neugier die Kundschaft der verbotenen Straßen ums Vielfache, und man wußte sogar von respektablen Damen, die sich als Dorfleute verkleideren, um die Neuigkeit des Grammophons aus der Nähe zu beobachten, doch sie beobachteten es so lange und aus solcher Nähe, daß sie bald zu dem Schluß kamen, es sei gar keine Zaubermühle, wie alle dachten und wie die Matronen versicherten, sondern ein mechanischer Kunstgriff, der nicht mit einem so ergreifenden, so menschlichen und von so viel Alltagswahrheit strotzenden Ding wie einer Musikkapelle zu vergleichen war. Die Enttäuschung war so groß, daß, als das Grammophon so volkstümlich wurde, daß jedes Haus eines anschaffte, man es nicht als Unterhaltungsgegenstand für Erwachsene ansah, sondern als auseinandernehmbares Spielzeug für Kinder. Hatte dagegen ein Dorfbewohner die Gelegenheit, die rauhe Wirklichkeit des auf der Eisenbahnstation eingerichteten Telefons festzustellen, das er infolge der Handkurbel für eine Vorform des Grammophons hielt, gerieten sogar die Ungläubigsten aus dem Konzept. Es war, als habe Gott beschlossen, jede Fähigkeit des Staunens auf die Probe zu stellen, und halte Macondos Einwohner in einem fortgesetzten Hin und Her des Frohlockens und der Enttäuschung, zwischen Zweifel und Offenbarung, bis schließlich niemand mehr genau wissen konnte, wo die Grenzen der Wirklichkeit lagen. Es war ein derartiges Gemisch aus Wahrheiten und Spiegelfechtereien, daß José Arcadio Buendías Gespenst unter der Kastanie sich vor Ungeduld krümmte und nicht anders konnte, als bei hellichtem Tag im Haus auf und ab zu gehen. Seit die Eisenbahnlinie offiziell eröffnet worden war und der Zug regelmäßig mittwochs um elf Uhr einfuhr, seit man das erste Stationsgebäude aus Holz errichtet hatte mit Büro, Telefon und einem Schalter zum Verkauf der Fahrscheine, sah man in Macondos Gassen Männer und Frauen, die zwar gewöhnliches, alltägliches Gebaren heuchelten, in Wirklichkeit aber Zirkusvolk glichen. Ein



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