Honig by McEwan Ian

Honig by McEwan Ian

Autor:McEwan, Ian [McEwan, Ian]
Die sprache: deu
Format: epub, azw3, mobi
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60341-5
Herausgeber: Diogenes Verlag AG
veröffentlicht: 2013-11-21T05:00:00+00:00


[251] 14

Um fünf Uhr an diesem Samstag waren wir ein Liebespaar. Es lief nicht glatt, es gab keine erleichterte und verzückte Explosion, als Körper und Seelen einander begegneten. Keine Ekstase wie bei Sebastian und Monica, der diebischen Gattin. Jedenfalls nicht am Anfang. Wir waren verlegen und unbeholfen, irgendwie theatralisch, als seien wir uns der Erwartungen eines unsichtbaren Publikums bewusst. Und das Publikum war real. Als ich die Haustür von Nummer 70 öffnete und Tom hineinließ, standen meine drei Hausgenossinen mit Teetassen in der Hand unten an der Treppe und plauderten, eine kurze Pause, ehe sie wieder in ihre Zimmer gingen und den Rest des Nachmittags Jura büffelten. Ich warf die Haustür geräuschvoll ins Schloss. Tom blieb auf der Fußmatte stehen, und die Frauen aus dem Norden beäugten ihn mit unverhohlenem Interesse. Mir blieb nichts anderes übrig, ich musste ihnen meinen neuen Freund vorstellen, was sie mit vielsagendem Grinsen und gegenseitigem Anstupsen quittierten. Wären wir fünf Minuten später gekommen, hätte uns niemand gesehen. Pech.

Statt Tom unter ihren Blicken in mein Schlafzimmer zu lotsen, ging ich mit ihm in die Küche und wartete, dass sie sich zerstreuten. Aber sie blieben. Während ich Tee machte, [252] hörte ich sie im Flur miteinander flüstern. Ich hätte sie gern ignoriert und mich mit Tom unterhalten, doch mein Kopf war völlig leer. Tom, der mein Unbehagen spürte, füllte das Schweigen, indem er mir von Dickens’ Darstellung von Camden Town in Dombey und Sohn erzählte, von der Eisenbahnstrecke nördlich der Euston Station, dem kolossalen Keil, den irische Hilfsarbeiter mitten durch die ärmsten Wohnviertel getrieben hatten. Er konnte sogar ein paar Zeilen auswendig, und sie passten genau auf meinen verwirrten Zustand. »Hunderttausend unvollendete Formen und Substanzen, wild untereinandergemengt, das Unterste zuoberst gekehrt, bald in die Erde tauchend, bald in die Luft hinausstrebend oder im Wasser modernd, zeigten sich allenthalben wie die unverständlichen Bilder eines Traumes.«

Endlich begaben sich meine Mitbewohnerinnen wieder an ihre Schreibtische, und wenig später stiegen wir mit unseren Teetassen die knarrende Treppe hinauf. Die Stille hinter den drei Türen, an denen wir auf dem Weg nach oben vorbeikamen, schien äußerst angespannt. Ich versuchte mich zu erinnern, ob mein Bett ebenfalls knarrte und wie dick die Wände meines Schlafzimmers waren – keine sehr erotischen Gedanken. Als Tom dann in meinem Lesesessel und ich auf dem Bett saß, schien es mir besser, das Gespräch erst einmal fortzusetzen.

Zumindest darin hatten wir beide schon Übung. In der National Portrait Gallery waren wir etwa eine Stunde geblieben und hatten uns unsere Lieblingsbilder gezeigt. Meins war Cassandra Austens Skizze von ihrer Schwester, seins William Strangs Bildnis von Thomas Hardy. Mit einem Fremden Bilder anzuschauen ist eine unaufdringliche [253] Form gegenseitigen Kennenlernens und sanfter Verführung. Wir kamen zwanglos von ästhetischen auf biographische Fragen zu sprechen – auf das Leben der Porträtierten, natürlich, aber auch der Maler, sofern wir etwas über sie wussten. Und Tom wusste wesentlich mehr als ich. Im Grunde war das bloß Klatsch und Tratsch. Gewürzt mit ein wenig Imponiergehabe: das und das gefällt mir, so ein Mensch bin ich. Es



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