Himmlische Juwelen by Donna Leon
Autor:Donna Leon [Leon, Donna]
Die sprache: eng
Format: mobi, epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257601916
Herausgeber: Diogenes Verlag AG
veröffentlicht: 2011-09-28T22:00:00+00:00
[155] 16
Beim Essen erwähnte sie den Mann mit keinem Wort, da sie weder ihre Eltern noch sich selbst beunruhigen wollte. Er hatte sie nicht bedroht, hatte sie nicht einmal angesprochen, und doch hatte er sie aus der Fassung gebracht und – gestand sie sich ein, während sie einer Geschichte ihrer Mutter zu folgen versuchte – in Angst und Schrecken versetzt. Die Stadt war eine sichere Insel in einer Welt, die offenbar immer mehr aus den Fugen geriet: Wenn man die Zeitung las, schien es, als sei eine Seuche im Anzug. Sie konzentrierte sich wieder auf die Geschichte ihrer Mutter und das Essen. Selbstgemachte Polenta, die ihr Vater regelmäßig von einem alten Freund geschickt bekam, der im Friaul noch Mais anbaute. Kaninchen aus Bisiol, wo ihre Mutter sie seit zwanzig Jahren kaufte. Artischocken aus Sant’Erasmo: Ihre Mutter war vor kurzem einer Genossenschaft beigetreten, die zweimal wöchentlich einen Korb Gemüse und Obst anlieferte. Auf den Inhalt des Korbs hatte der Käufer keinen Einfluss: Es kam, was die Jahreszeit gerade hergab, alles biologisch angebaut.
Ihre Mutter hatte sich beklagt, in ihrem ganzen Leben habe sie noch nie so viele Äpfel gegessen, doch als Caterina nun einen davon kostete, in Rotwein gekocht und mit Schlagsahne bedeckt, hätte sie ihre Mutter am liebsten für weitere zwei Monate auf Äpfel abonniert. Sie sprachen über dies und das: die Arbeit ihres Vaters, die Freundinnen ihrer Mutter, die Ehen ihrer Schwestern, über die Nichten und [156] Neffen. Caterina fragte sich, ob sie, sollte sie jemals ein Vermögen besitzen und selbst weder Mann noch Kinder haben, es gern Nichten und Neffen hinterlassen würde. Sie waren alle noch Kinder: Wer wusste schon, wozu sie sich einmal auswachsen würden?
Während sie mit halbem Ohr ihren Eltern zuhörte, dachte sie an Steffani. Er war den größten Teil seines Lebens in Deutschland tätig gewesen und nur gelegentlich und meist nur für kürzere Zeit nach Italien zurückgekehrt. Wie oft mochte er seine Verwandten und deren Kinder gesehen haben? Wie vertraut war er überhaupt mit ihnen, hatte er sie in die Luft geworfen, mit ihnen gespielt und ihnen Lieder vorgesungen? Und erst diese Cousins, die von den Kindeskindern von Steffanis Cousins abstammten: Mit welchem Recht beanspruchten die seine schriftlichen und sonstigen Hinterlassenschaften oder gar einen »Schatz«? Niemand hatte ihr das auch nur mit einem Wort erklärt.
Bisher hatte sie einen einzigen Hinweis auf Steffanis Nachlass gefunden; demnach waren nach Auszahlung seiner Gläubiger »2029 Florin, einige Papiere, Reliquien, Schaumünzen und Notenblätter« übriggeblieben. Dieses »und Notenblätter« traf sie mit voller Wucht. Abgesehen davon hatte der Mann vierundsiebzig Jahre gelebt und nichts hinterlassen als einige Papiere, Reliquien und einiges Geld. Also einen Schatz?
»Woher wissen wir eigentlich, dass dein Urgroßvater alles im Casinò verspielt hat?«, fragte sie unvermittelt ihren Vater. Die Eltern starrten Caterina entgeistert an, auch deshalb, weil sie ihnen so offenkundig nicht zugehört hatte.
Ihr Vater fuhr sich mit beiden Händen durch sein noch [157] dichtes Haar, wie immer, wenn er Zeit zum Nachdenken brauchte. Ihre Mutter tat ihnen, wie immer, wenn etwas anders lief als geplant, noch mehr Essen auf die Teller.
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