Himmelstal by Marie Hermanson

Himmelstal by Marie Hermanson

Autor:Marie Hermanson [Hermanson, Marie]
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
Herausgeber: Insel Verlag
veröffentlicht: 2012-09-28T22:00:00+00:00


31 Mit Hilfe von zwei Krücken verließ Daniel den Balkon und hüpfte auf seinem gesunden Bein durch die Schiebetür in Gisela Obermanns geräumiges Arbeitszimmer. Auf dem Konferenztisch war das Mittagessen serviert worden: zwei Teller mit Lammfilet und einem Püree aus Wurzelgemüse, dazu eine Flasche Rotwein. Daneben stand ein silbriger Servierwagen. Daniel verstand, dass das Essen vom Restaurant geliefert worden war und nicht aus dem Speisesaal für die Patienten kam.

Gisela zog ihm einem Stuhl heran und half ihm, sich zu setzen.

»Ist das üblich, dass die Ärzte ihre Patienten zum Mittagessen in ihr Arbeitszimmer einladen?«, fragte er und schnitt ein Stück rosafarbenes, nach Thymian duftendes Fleisch ab. Das Messer glitt widerstandslos hindurch, wie durch ein Stück warme Butter.

»Das ist nicht üblich.«

»Haben Max und Sie hier zusammen gegessen?«

Gisela Obermann lachte und stellte das Weinglas ab, das sie gerade erhoben hatte.

»Max? Nein. Er wollte nicht hierherkommen. Er hasste es, mit mir zu sprechen. Du bist ganz anders, Daniel. Am Abend nachdem du hier warst, habe ich noch lange hier gesessen und Videoaufzeichnungen von meinen Gesprächen mit Max angeschaut. Ich habe sie mit den Aufzeichnungen von unserem Gespräch verglichen. Und ich habe sofort gesehen, dass an dir alles anders war. Der gleiche Körper. Aber doch anders.«

»Haben Sie noch nie etwas von Zwillingen gehört?«

»Aber nach unseren Angaben hat Max keinen Zwillingsbruder. Dann kamen die Geschichten mit dem Brand und mit Tom. Du hast dein Leben riskiert, um andere zu retten. Das hätte Max nie getan. Das hat meine Überzeugung bestärkt. Meine Kollegen glaubten mir nicht. Sie meinten, du würdest mich manipulieren. Aber jetzt, wo du die Zone 2 betreten hast, können sie die Fakten nicht mehr negieren. Das ist der Beweis.«

Sie lächelte triumphierend.

»Der Beweis wofür?«, fragte Daniel.

»Dass deine neue Persönlichkeit echt ist. Sie umfasst deine ganze Person. Hätte es noch einen Rest von Max in dir gegeben, hättest du dich nicht überwinden können, die Zone 2 zu betreten. Aber du hast ihn total getilgt. Ich weiß nicht, wie es geschehen ist. Wahrscheinlich hat es etwas mit deinem ersten Stromschlag zu tun …«

»Meinem ersten?«

»Letzten Sommer.«

»Aber das war doch Max«, protestierte er.

Gisela nickte schnell.

»Genau. Das war zu deiner Zeit als Max. Du warst auch damals bewusstlos und hast für kurze Zeit das Gedächtnis verloren. Du hast dich schnell wieder erholt, aber irgendetwas war mit dir geschehen. Du warst stiller, zurückgezogener. Als dann dein Bruder zu Besuch kam, hast du seine Persönlichkeit angenommen. Hast seine Körpersprache und seine freundliche Art übernommen. Und als er wieder abgereist war, hast du geglaubt, du seist er. Du wurdest Daniel. Ein netter, empathischer, selbstloser Mann. Vielleicht nur vorübergehend, aber es ist doch wunderbar.«

Sie lächelte mit blitzenden Augen.

»Es ist das erste Mal, dass wir bei einem unserer Bewohner eine Veränderung feststellen können. Dazu noch eine positive Veränderung. Das lässt uns für unsere Forschungen hoffen.«

Daniel war schwindelig. Er legte das Besteck ab.

»Glauben Sie das wirklich?«, rief er aus. »Dass ich unter den Symptomen einer multiplen Persönlichkeit leide?«

»Leiden würde ich nicht sagen. In deiner Situation ist es nur positiv. Auch wenn Max wieder zurückkehrt, hast du Daniel in dir, und auf ihn werden wir uns konzentrieren, und wir werden versuchen, ihn zu bestärken.



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