Hexensarg Roman by Wolf Serno

Hexensarg  Roman by Wolf Serno

Autor:Wolf Serno
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783426433911
Herausgeber: Knaur e-books
veröffentlicht: 2016-01-26T05:00:00+00:00


Zum ersten Mal seit langer Zeit bereute Lapidius, keinen Spiegel zu haben. Gern hätte er sein Konterfei betrachtet, um zu überprüfen, ob sein Aussehen nicht zu abschreckend wirkte. Doch er hatte keinen Spiegel, und deshalb musste er sich so, wie er war, auf den Weg zu Yanardan und Irit machen.

Mit langen Schritten eilte er über die Insel und erreichte ihre Hütte schon nach kurzer Zeit. Als er vor der Tür haltmachte, war er recht aufgeregt. Er atmete ein paarmal tief durch, wartete, bis sein Puls sich halbwegs beruhigt hatte, und rief mit verhaltener Stimme: »Yanardan?«

Der alte Arzt öffnete sogleich. »Wir freuen uns, dass du gekommen bist«, sagte er und machte eine einladende Geste. »Komm herein.«

»Ja, wir freuen uns«, sagte auch Irit, die sich mit einer anmutigen Bewegung erhoben hatte. »Sei willkommen.«

»Danke«, krächzte Lapidius. Er spürte einen Kloß im Hals und war nicht in der Lage, weiterzureden. Was hatte er sich nicht alles an klugen, artigen und höflichen Sätzen zurechtgelegt, und nun brachte er nichts anderes als dieses armselige »Danke« hervor!

Doch Irit schien seine Verlegenheit nicht zu bemerken. »Ich hoffe, du hast einen kräftigen Appetit mitgebracht«, sagte sie, und ihre Augen blickten ihn forschend an. »Yanardan allein würde an der Menge, die ich für euch zubereitet habe, wahrscheinlich eine ganze Woche essen.«

»Heißt das, du isst nicht mit uns?«, fragte Lapidius überrascht.

Irit schwieg einen Augenblick. Dann antwortete sie: »Ich kann mein Gesichtstuch nicht abnehmen. Ich esse später.«

Lapidius spürte Enttäuschung, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Sicher bringst du etwas Köstliches auf den Tisch.«

»Es ist nichts Besonderes, nur aus dem gemacht, was du uns aus Zwaanshoven herübergebracht hast.«

Wie sich zeigte, war es ihr jedoch sehr wohl gelungen, aus dem wenigen etwas Besonderes zu machen. Sie hatte einen Laib Brot ausgehöhlt, ihn mit zerkleinertem Pökelfleisch und gehackten Zwiebeln gefüllt und das Ganze über dem Feuer gebacken. Jede Scheibe des so entstandenen neuen Brotes schmeckte durch und durch würzig, und Lapidius, der sonst kein großer Esser war, langte kräftig zu. Es mundete ihm so gut, dass er kaum bemerkte, wie wenig Yanardan aß und wie aufmerksam Irit ihn beobachtete.

Als sie ihr Mahl beendet hatten und Irit einen Becher frisch aufgefangenes Regenwasser anbot, sagte Yanardan: »Nehmt es mir nicht übel, aber ich bin ein wenig müde. Ich werde mich zur Ruhe legen.«

»Jetzt schon, Yanardan?«, fragte Irit verwundert.

»Ja, jetzt schon. Vergiss nicht, ich bin ein alter Mann.« Yanardan lächelte entschuldigend. »Danke für deinen Besuch, Lapidius. Ich bin sicher, wir sehen uns bald wieder.«

»Das würde mich freuen«, sagte Lapidius höflich.

Yanardan erhob sich, strich Irit mit einer liebevollen Geste über den Kopf und verließ den Raum.

In die aufkommende Stille hinein sagte Irit: »In letzter Zeit ist er so anders. Manchmal denke ich, er sieht Dinge voraus, die er mir nicht sagen will.«

»Er erzählte mir, er sei Arzt.«

»Ja, das ist er. Ein Arzt, der Gesichte hat. Er lebt in seiner eigenen Welt. Aber er hat mich immer daran teilhaben lassen, solange ich denken kann.«

»Jeder hat sein eigenes Leben.«

»Das stimmt, aber zusammen ist man stärker.« Irit begann, den Tisch abzuräumen, und als sie fertig war, sagte sie: »Ich möchte noch einen Spaziergang machen.



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