Hesperus oder 45 Hundsposttage by Jean Paul

Hesperus oder 45 Hundsposttage by Jean Paul

Autor:Jean Paul
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: (Privatkopie)
veröffentlicht: 2010-02-02T16:00:00+00:00


Sechster Schalttag

Über die Wüste und das gelobte Land des Menschengeschlechts

Es gibt Pflanzenmenschen, Tiermenschen und Gottmenschen. – Als wir geträumt werden sollten: wurde ein Engel düster und entschlief und träumte. Es kam Phantasus63 und bewegte gebrochne Lufterscheinungen, Dinge wie Nächte, Chaosstücke, zusammengeworfne Pflanzen vor ihm und verschwand damit.

Es kam Phobetor und trieb tierische Herden, die unter dem Gehen würgten und graseten, vor ihm vorüber und verschwand damit.

Es kam Morpheus und spielte mit seligen Kindern, mit bekränzten Müttern, mit küssenden Gestalten und mit fliegenden Menschen vor ihm, und als die Entzückung den Engel weckte, war Morpheus und das Menschengeschlecht und die Weltgeschichte verschwunden...

– Jetzo schläft und träumt der Engel noch – wir sind noch in seinem Traum – erst Phobetor ist bei ihm, und Morpheus wartet noch darauf, daß Phobetor mit seinen Tieren verschwinde...

Aber lasset uns, statt zu träumen, denken und hoffen; und jetzt fragen: werden auf Pflanzenmenschen, auf Tiermenschen endlich Gottmenschen kommen? Verrät der Gang der Welt-Uhr so viel Zweck wie der Bau derselben, und hat sie ein Zifferblatt-Rad und einen Zeiger!

Man kann nicht (wie ein bekannter Philosoph) von Endabsichten in der Physik sofort auf Endabsichten in der Geschichte schließen – so wenig als ich, im einzelnen, aus dem teleologischen (absichtvollen) Bau eines Menschen eine teleologische Lebensgeschichte desselben folgern kann, oder so wenig als ich aus dem weisen Bau der Tiere auf einen fortlaufenden Plan in der Weltgeschichte derselben schließen darf. Die Natur ist eisern, immer dieselbe, und die Weisheit in ihrem Bau bleibt unverdunkelt; das Menschengeschlecht ist frei und nimmt wie das Aufgußtier, die vielgestaltete Vortizelle, in jedem Augenblick bald regelmäßige, bald regellose Figuren an. Jede physische Unordnung ist nur die Hülse einer Ordnung, jeder trübe Frühling die Hülse eines heitern Herbstes; aber sind denn unsere Laster die Blüteknospen unserer Tugenden, und ist der Erdfall eines fortsinkenden Bösewichts denn nichts als eine verborgne Himmelfahrt desselben? – Und ist im Leben eines Nero ein Zweck? Dann könnt' ich ebensogut alles zurückgeben und umkehren und Tugenden zu Herzblättern versteckter Laster machen. Wenn man aber, wie mancher, den Sprachmißbrauch so weit treibt, daß man moralische Höhe und Tiefe, wie die geometrische, nach dem Standort umkehret, wie positive und negative Größen; wenn also alle Gichtknoten, Fleckfieber und Blei- oder Silberkoliken des Menschengeschlechts nichts sind als eine andere Art von Wohlbefinden: so brauchen wir ja nicht zu fragen, ob es je genesen werde – es könnte ja dann in allen möglichen Krankheiten doch nichts sein als gesund.

Wenn sich ein Mönch des zehnten Jahrhunderts schwermütig eingeschlossen und über die Erde, aber nicht über ihr Ende, sondern über ihre Zukunft, nachgedacht hätte: wäre nicht in seinen Träumen das dreizehnte Jahrhundert schon ein helleres gewesen und das achtzehnte bloß ein verklärtes zehntes?

Unsere Wetterprophezeiungen aus der gegenwärtigen Temperatur sind logisch richtig und historisch falsch, weil neue Zufälle, ein Erdbeben, ein Komet, die Ströme des ganzen Dunstkreises umwenden. Kann der gedachte Mönch richtig berechnen, wenn er solche künftige Größen wie Amerika, Schießpulver und Druckerschwärze nicht ansetzt? – Eine neue Religion – ein neuer Alexander – eine neue Krankheit – ein



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