Helden wie wir. Roman by Thomas Brussig
Autor:Thomas Brussig [Brussig, Thomas]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104037608
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-09-08T16:00:00+00:00
Ich kann Ihnen sagen, wie ich meine Situation verstand. Wie Sie wissen, war ich berufen, Großes zu vollbringen. Natürlich gab es in allem, was ich tat, einen tieferen Sinn, ein Sinn, der mir allerdings noch verborgen blieb. Aber die Stunde würde kommen, in der er sich offenbart. Irgend jemand verbindet eine Absicht damit, mich an einen unscheinbaren Ort zu versetzen und Dinge tun zu lassen, die eines Meisteragenten unwürdig sind. Jemand mit viel Macht und Weitblick, jemand, auf dessen Schreibtisch viele Telefone stehen, jemand, in dessen Händen alle Fäden zusammenlaufen und der sich mir zu erkennen gibt, wenn er die Zeit für gekommen hält. Mein Part in diesem Spiel war, auszuharren, meine Rolle zu spielen und mir nicht anmerken zu lassen, daß ich ein verwunschener Topspion bin. Der Herr meiner Geschicke versichert sich nur meiner Geduld und meiner Ergebenheit, und je härter und erniedrigender die Proben sind, die mir auferlegt werden, desto bedeutender wird meine Mission. Wozu noch Fragen stellen? Außerdem war ich als schlechtinformiertester Mensch darin erfahren, in Ungewißheit und Andeutungen zu leben. Es reichte, daß er (wer auch immer das sein mochte – Minister Mielke?) und ich wissen, daß ich etwas Besonderes bin und daß alles, was ich jetzt durchlebe, nur Vorläufigkeiten sind. Jemand hatte Pläne mit mir, und alles, was mir geschieht, sind Mosaiksteine, die sich zu einem Bild fügen und einen Sinn ergeben werden. Ich fühlte mich so aufgehoben. Ich war gewiß, daß ich nur tun muß, was man mir sagt, und daß darüber hinaus nichts in meiner Macht steht. Ich warte, und nichts von dem, was ich in dieser Zeit tun werde, ist von mir so gemeint oder beabsichtigt. Ich habe deshalb auch niemandem geschadet. Ich war das nicht, der einbrach, kidnappte, verfolgte, verunsicherte, verängstigte. Ich habe nur gewartet.
An einem Morgen im November klingelte es um sieben an der Haustür. Eule sprach aufgeregt in die Wechselsprechanlage; ich bekäme ab heute eine neue Aufgabe und solle sofort mitkommen. So stellte ich mir meinen Tag X immer vor: eine unscheinbare, unangekündigte Aktion an einem grauen und verregneten Tag. Eule setzte mich in sein Auto und fuhr ins Stadtzentrum. Unterwegs sprachen wir nicht, aber wer die Romane kennt oder »Das unsichtbare Visier« mit Armin Mueller-Stahl gesehen hat, der weiß, daß bei solchen Anlässen wenig oder gar nicht gesprochen wird. Eule fuhr zum Spittelmarkt und parkte den Wagen vor der USIMEX Außenhandelsgesellschaft mbH. Nach einer Minute kam Raymund aus dem Haus und stieg ein. Genau, der Raymund, Strahlemund mit Ypsilon, Komme-was-da-wolle-Onanist, der Mondscheinfahrten-Organisator. Was ist los? Was wird da gespielt? Wieso steigt der bei uns ein? Darf ich vor Eule zu erkennen geben, daß ich Raymund kenne? Soll meine Kaltblütigkeit getestet werden? (Wie reagiert unser hoffnungsvollstes Nachwuchstalent, wenn es in Gegenwart Dritter mit alten Bekannten konfrontiert wird?) Ich schaute zunächst nur aus dem Fenster und analysierte dabei fieberhaft die Situation. Ich: äußerlich gelassen und desinteressiert, aber innerlich hellwach und hochkonzentriert. Aus so einem wie mir muß eines Tages einfach etwas werden!
Eule startete den Wagen und fuhr in die Leipziger Straße.
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