Heidis Lehr- und Wanderjahre by Spyri Johanna

Heidis Lehr- und Wanderjahre by Spyri Johanna

Autor:Spyri, Johanna
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: (Privatkopie)
veröffentlicht: 2010-02-02T16:00:00+00:00


Im Hause Sesemann geht's unruhig zu

Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustür geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog schon wieder jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, daß Sebastian die Treppe völlig hinunterschoß, denn er dachte: »So schellt nur der Herr Sesemann selbst, er muß unerwartet nachhause gekommen sein.« Er riß die Tür auf – ein zerlumpter Junge mit einer Drehorgel auf dem Rücken stand vor ihm.

»Was soll das heißen?« fuhr ihn Sebastian an. »Ich will dich lehren, Glocken herunterzureißen! Was hast du hier zu tun?«

»Ich muß zur Klara«, war die Antwort.

»Du ungewaschener Straßenkäfer du; kannst du nicht sagen ›Fräulein Klara‹, wie unsereins tut? Was hast du bei Fräulein Klara zu tun?« fragte Sebastian barsch.

»Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig«, erklärte der Junge.

»Du bist, denk' ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt, daß ein Fräulein Klara hier ist?«

»Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig.«

»Da siehst du, was für Zeug du zusammenflunkerst; Fräulein Klara geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, daß du dahin kommst, wo du hin gehörst, bevor ich dir dazu verhelfe!«

Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern; er blieb unbeweglich stehen und sagte trocken: »Ich habe sie doch gesehen auf der Straße, ich kann sie beschreiben: sie hat kurzes, krauses Haar, das ist schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie kann nicht reden wie wir.«

»Oho«, dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, »das ist die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt.« Dann sagte er, den Jungen hereinziehend: »'s ist schon recht, komm mir nur nach und warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fräulein hört es gern.«

Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.

»Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst etwas zu bestellen hat«, berichtete Sebastian.

Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis.

»Er soll nur gleich hereinkommen«, sagte sie, »nicht wahr, Herr Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muß.«

Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem Abc auszuweichen, sich im Eßzimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf einmal horchte sie auf. – Kamen die Töne von der Straße her? Aber so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen? Und dennoch – wahrhaftig – sie stürzte durch das lange Eßzimmer und riß die Tür auf. Da – unglaublich – da stand mitten im Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein Instrument mit größter Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen. Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.

»Aufhören! Sofort aufhören!« rief Fräulein Rottenmeier ins Zimmer hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie auf den Jungen zu – aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den Füßen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch ihr zwischen den Füßen durch – eine Schildkröte.



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