Haus der Geister: Roman (German Edition) by John Boyne
Autor:John Boyne [Boyne, John]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492967792
Herausgeber: Piper ebooks
veröffentlicht: 2014-10-05T22:00:00+00:00
Fünfzehntes
Kapitel
Zur Mittagszeit hatte ich mich einigermaßen von dem Schock erholt.
Die Kinder hatten sich über den freien Vormittag gefreut. Es war mir nichts übrig geblieben, als den Unterricht ausfallen zu lassen. Unmöglich konnte ich mich nach so einer erschütternden Erfahrung auf Shakespeares Sonette oder den Unterschied zwischen einer Halbinsel und einer Landzunge konzentrieren.
Nachdem Mrs Livermore fort war – sie hatte sich in ihr Cottage zurückgezogen, das hinter einer Baumgruppe an der Rückseite des Stalls verborgen lag; zwischen ihrer Bleibe und dem Hauptgebäude ging sie jeden Tag mehrmals hin und her, meist, ohne dass ich sie bemerkte –, irrte ich trostlos und verloren durchs Haus. Isabella und Eustace waren draußen beim Spielen, und mir stand nicht der Sinn danach zu lesen, zu nähen oder auf dem kleinen Klavier zu spielen, das ich ein paar Tage zuvor im Salon entdeckt hatte und auf dem ich hin und wieder ein paar leichte Etüden klimperte. Stattdessen wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass es Abend wurde, damit ich zu Bett gehen und in den Schlaf sinken könnte, »den großzügigen Segen«, wie Coleridge ihn nennt. Ich hoffte, dass am nächsten Morgen aller Schrecken vergessen wäre und ich mich frisch und ausgeruht fühlen würde. Die ganze Zeit fragte ich mich, ob ich die Anwesenheit der merkwürdigen Erscheinung wieder spüren würde, die im Haus herumgeisterte, aber es blieb alles ruhig, bis die Türklingel ertönte und ich vor Schreck zusammenfuhr.
Es war Nachmittag geworden. Um diese Jahreszeit wurde es früh dunkel, und es war wieder Nebel aufgezogen. Ich warf einen Blick aus dem Fenster, aber die Kinder waren nirgends zu sehen.
Mit flauem Magen ging ich in die Eingangshalle. Ich fürchtete mich ein wenig davor, die Tür zu öffnen, und machte sie zunächst nur einen Spalt auf. Doch als ich sah, wer dort stand, fiel alle Anspannung von mir ab.
»Mrs Toxley«, sagte ich.
Im ersten Moment wunderte ich mich über ihren Besuch, aber dann fiel mir ein, dass ich sie am Sonntag zum Tee eingeladen hatte. Ich hatte die Verabredung vollkommen vergessen.
»Sie wirken überrascht«, sagte sie, blieb vor der Tür stehen und sah sich unruhig um. »Wir haben doch Mittwoch gesagt, oder?«
»Natürlich«, beeilte ich mich zu versichern. »Es tut mir furchtbar leid. Darf ich ehrlich zu Ihnen sein und gestehen, dass mir unsere Verabredung entfallen ist? Es gab hier im Haus ein paar Vorkommnisse, die mich sehr mitgenommen haben, und darüber habe ich Sie leider ganz vergessen.«
»Ich kann gern an einem anderen Tag wiederkommen, wenn es Ihnen besser passt«, schlug sie vor, trat einen Schritt zurück und machte ein erleichtertes Gesicht. Ich schüttelte den Kopf und winkte sie herein.
»Sie müssen mich für schrecklich unhöflich halten«, sagte ich. »Wie kann man jemanden nur zum Tee einladen und ihn dann vergessen? Ich bitte sie um Verzeihung.«
Ich spähte hinaus in den Nebel. Ein Schatten huschte zwischen den Bäumen hindurch. Ich blinzelte, und er war verschwunden.
»Haben Sie zufällig die Kinder draußen irgendwo gesehen?«
»Ja, ich bin Isabella begegnet. Sie lief mit einem Ball in der Hand an mir vorbei und machte ein finsteres Gesicht. Ich hörte Eustace hinter ihr herrufen, habe ihn aber nicht gesehen.
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