Haarmanns Kopf by Ebstein Roy

Haarmanns Kopf by Ebstein Roy

Autor:Ebstein, Roy [Ebstein, Roy]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-03-18T23:00:00+00:00


Er lenkte den Blick auf die Wanduhr neben ihm.

14:30 Uhr.

Die Tür des Vitrinenschranks war nur angelehnt. Er öffnete die Tür, nahm vorsichtig den Behälter vom gläsernen Fachboden und stellte ihn auf dem Tisch ab. Dann entfernte er das schwarze Tuch.

Das Neonlicht über dem Tisch brach sich im Glas des Behälters. Einem anderen Betrachter wäre der Inhalt seltsam erschienen und hätte ihm einen Schauer über den Rücken gejagt. Für ihn jedoch war es jedes Mal wie der Besuch einer heiligen Messe. Haarmanns Kopf war für ihn ein Relikt, ein Totem, ein Fetisch und etwas Heiliges zugleich.

Ehrfürchtig drehte er den Behälter ein wenig nach rechts und betrachtete die Stelle des Kopfes, an der man diesen vor Jahren geöffnet hatte, um ihm einen Teil seines Gehirns zu entnehmen. Immer, wenn er diese Stelle betrachtete, ärgerte er sich maßlos. Wie konnte man es wagen, sich an dem Kopf seines Idols zu vergreifen? Das war Frevel!

Er stand auf, ging erneut zum Schrank und kehrte mit dem zweiten Behälter zurück, den er neben dem ersten auf dem Tisch platzierte.

Haarmanns Gehirnschnitte sahen wie Scheiben einer überdimensionalen, faltigen Walnuss aus. Zu gerne hätte er jetzt mit seiner Arbeit begonnen, die Schnitte gesäubert und anschließend in Aceton getrocknet, um sie dann in einer Kunststofflösung einzulegen. Doch er musste sich noch gedulden.

Aus dem Nebenraum drang eine Stimme.

„Hilfe! Wasser!“

Noch zweimal ertönte der Ruf, dann wurde die Stimme schwächer.

Er öffnete die Tür des Raums, den er am Morgen verlassen hatte. Er schaltete das Licht ein. Dann ging er zum Kopfende des Metalltisches und betrachtete das schmerzverzerrte Gesicht Kettners, der stöhnte: „Wasser! Ich muss etwas trinken ...“

Der Präparator öffnete den Verschluss des Gurtes, mit dem Kettners Kopf fixiert war. Er nahm ein leeres Glas vom Tisch, bückte sich, öffnete den Hahn im unteren Bereich des metallischen Behälters und füllte das Glas halb mit dem Blut, das er Kettner am Morgen entnommen hatte. Eine Heizspirale in der Außenwand hielt das Blut warm und der luftdichte Verschluss sowie die Zugabe von Natriumcitrat, das er schon am Morgen in den Behälter geschüttet hatte, verhinderte die Gerinnung des Blutes. Dann ging er mit dem Glas zurück zu Kettner, hob dessen Kopf etwas an und führte das Glas an dessen Lippen.

„Hier, trink das“, sagte der Präparator.

„Was ist das?“, fragte Kettner.

„Trink!“

Kettner trank hastig einen Schluck und verzog das Gesicht. „Was ist das?“, fragte er noch einmal.

„Das ist gesund und enthält viel Eisen.“ Der Mann grinste.

„Du willst, dass ich mein eigenes Blut trinke? Du bist ein Teufel ...“

„Dann lass es. Ist sowieso reine Verschwendung.“

Er stellte das Glas beiseite, öffnete das Ventil der Kanüle, die unverändert in Kettners Beinarterie steckte, und schaltete die kleine Pumpe ein. Kettner hob den Kopf und sah, wie sein Blut durch den Schlauch in den Behälter neben ihm floss.

„Weißt du, dass ein Mensch durchaus drei bis vier Tage ohne Flüssigkeit überleben kann?“

Kettner antwortete nicht.

„Aber es ist viel interessanter zu sehen, wie lange du durchhältst. Es soll Menschen geben, die einen Blutverlust von mehr als zwei Litern überlebt haben. Bei den geschätzten sechs Litern in deinen Adern wirst du voraussichtlich gleich schlapp machen.



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