Gute Nacht, Mr. Sharon: Wie ich den Krieg überlebte. (German Edition) by müller Ingrid
Autor:müller, Ingrid [müller, Ingrid]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-02-22T16:00:00+00:00
MR. WATSON
Die Lage in Westdeutschland verschlechterte sich noch durch die vielen Flüchtlinge aus dem Osten. Im Ruhrgebiet gab es keine Wohnungen, denn in den Innenstädten lag kein Stein mehr auf dem anderen. Ein Wohnungsamt wurde eingerichtet, das über die noch vorhandenen Wohnungen bestimmte. Von den sechs Zimmern unseres Hauses mussten wir drei vermieten. Ein Ehepaar lebte in einem separaten von uns möblierten Zimmer und kam abends in unsere Küche, um sich auf dem Herd das Essen zuzubereiten. Sie saßen an unserem Küchentisch und wir saßen drumherum und schauten ihnen beim Essen zu. Das war uns allen peinlich, und sie schafften es auch, sehr schnell eine andere Wohnung zu finden. Wir beantragten beim Wohnungsamt Eigenbedarf und wiesen darauf hin, dass wir nicht bereit seien, weiterhin täglich fremde Leute in unsere Küche zu lassen, die mit unseren Töpfen auf unserem Herd ihr Essen brutzelten. Da kam uns dann die Lungenkrankheit meines Vaters sehr gelegen, und wir bekamen ein weiteres Zimmer in unserem eigenen Haus zugeteilt.
Die Menschen nahmen, was sie bekommen konnten. Auf den Bahngleisen in unserer Nähe enterten sie dort abgestellten D-Zug-Wagen, und einige legten sich auf dem Grundstück der Bahn einen Gemüsegarten an. Es gefiel ihnen dort so gut, dass die Bahn irgendwann große Schwierigkeiten hatte, sie wieder auszuquartieren.
In unserer Nähe im Schatten eines Bahndamms gab es Baracken, in denen im Krieg gefangene Franzosen untergebracht waren. Jeden Morgen wurden sie von ein paar deutschen Soldaten mit geschultertem Gewehr zu ihrem Arbeitseinsatz durch unsere Straße geleitet. Am späten Nachmittag kehrten sie dann zurück. Sie trugen rote Hosen, olivgrüne Jacken und eine ebensolche Schiffchenmütze. Ihre dunklen Haare, der braune Teint und die schwarzen Augen waren weit entfernt vom Hitlerschen Arierideal, der ja selber – wie jeder weiß – blond, groß und blauäugig war. Wir Kinder hatten etwas Angst vor diesen fremden Gestalten, die dazu noch äußerst freudlos wirkten, und so waren wir immer sehr aufgeregt, wenn sie am Ende der Straße auftauchten.
„Die Franzosen mit den roten Hosen“, schrieen wir und sprangen wild herum.
Sie beachteten uns nicht. Lediglich ein hübscher junger Kerl mit lustigen braunen Augen und einem schwarzen Lockenkopf lachte, und er tat hinter dem Rücken des Wachsoldaten einen Schritt aus der Reihe auf uns zu und griff mit den Armen in die Luft so, als ob er uns fangen wollte. Laut kreischend stoben wir davon und freuten uns auf das Abenteuer am nächsten Tag.
Nach dem Zusammenbruch waren sie verschwunden und Deutsche zogen in die Baracken. Manche wohnten hier ziemlich lange, doch dann mussten sie ausziehen weil italienische Gastarbeiter ins Land kamen. die dort provisorisch untergebracht wurden. Niemand glaubte, dass sie auf Dauer bleiben würden. Dieses zerbombte Land mit dem freudlosen Wetter und den unfreundlichen Bewohnern. Das hat sich alles grundlegend geändert. Wohnungen wurden gebaut, italienische Eisdielen und Pizzerien entstanden, die Italiener blieben und ließen ihre Familien nachkommen, und die Deutschen wurden freundlicher.
Es war ein sehr langer Weg. Damals wussten viele nicht, wie sie am nächsten Tag satt werden sollten.
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