Gut Greifenau Goldsturm Roman by Hanna Caspian

Gut Greifenau Goldsturm  Roman by Hanna Caspian

Autor:Hanna Caspian [Caspian, Hanna]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783426457405
Herausgeber: Knaur e-books


Mitte September 1921

Himmel, die sahen wirklich runtergekommen aus. Der Mann hager, die Frau hohle Wangen, und die Dreijährige schien erschöpft, zu müde vom vielen Betteln. Vielleicht war die Kleine auch schon vier oder fünf. So genau konnte man das bei den Kindern heute nicht mehr sagen. Zu viele litten Hunger. Zu viele blieben weit hinter ihrem Entwicklungsstand zurück. Mamsell Schott wollte sie gerade abweisen, als ihr einfiel, dass so die Familie ihres Sohnes aussah. Ein Mann, eine Frau, jetzt war noch ein kleines Mädchen dazugekommen. Was, wenn es ihnen jemals so erginge? Plötzlich brachte sie es nicht mehr übers Herz, ihnen die Tür vor der Nase zuzumachen.

»Setzen Sie sich dorthin. Ich bringe Ihnen etwas raus.«

Ein ungläubiger Blick lief über die Gesichter der beiden Erwachsenen. Sie nickten. Nur die Frau stammelte. »Danke, ein so herzliches Danke.«

Ottilie ging in die Küche. »Ich bräuchte ein kleines Vesper.«

»Für wen?«

Sie seufzte. Früher war alles so viel einfacher gewesen. Früher war sie eine Respektsperson durch und durch gewesen. Da hätte niemand gewagt zu fragen. Doch heute war alles demokratischer. Jeder hatte mehr zu sagen. Oder zu fragen. Das hatte ihnen die Demokratie gebracht: Hunger und Freiheit.

»Für eine hungrige Familie.«

Bertha schaute sie skeptisch an, sagte dann aber nichts. Sie wusste, Schott und Caspers und auch alle anderen wiesen am Tag ein halbes Dutzend Bettler ab. Jeden Monat schien sich diese Zahl zu erhöhen.

Letzte Woche hatte es eine Überraschung gegeben. Da hatte es geklingelt, aber statt eines Saisonarbeiters oder Tagelöhners hatte ein Bürgerspaar vor der Tür gestanden. Gut angezogen hatte es ihnen eine Wohnzimmerlampe verkaufen wollen, gegen ein Stück Speck.

»Kinder dabei?«, fragte Bertha.

»Ein kleines Mädchen. Dünn wie ein ausgewrungenes Handtuch.«

Bertha verschwand im Kühlkeller und erschien mit zwei Schüsseln voller Schmalz und Butter und der Milchkanne. Sie schnitt dicke Brotscheiben ab und beschmierte sie großzügig mit Schmalz. Sie füllte drei alte Blechnäpfe mit der Milch. Auf ein Brot gab sie dick Butter und Honig darauf. Alles stellte sie auf ein Tablett. Zum Schluss legte sie noch drei Birnen dazu.

Ottilie war erstaunt über so viel Großzügigkeit. »Sieht aus, als wäre heute schon für jemanden Weihnachten.«

Bertha sah betrübt aus. Resigniert schaute sie auf ihre abgearbeiteten Hände. Sie ließ sich auf einen Schemel fallen, als wäre das, was sie sagen wollte, zu schwer, um es im Stehen zu erzählen.

»Ich hab gestern einen Brief von meiner Schwester bekommen. Zwei ihrer Kinder sind an Tuberkulose erkrankt. Wegen Nahrungsmangels. Sie hat auch auf einem Gutshof gearbeitet, in Dramburg. Genau wie ich, aber als Stubenmädchen. Später hat sie einen Pächter geheiratet. Man sollte glauben, da gäbe es genug zu essen. Das Gut ist vor die Hunde gegangen nach dem Krieg. Ich schlage jeden Tag tausend Kreuze, dass wir so jemanden haben wie Graf Konstantin.« Ächzend erhob sie sich. »Und ich wünschte, irgendjemand würde meiner Familie so ein Tablett vor die Tür bringen.« Sie schob es Richtung Ottilie.

Die Mamsell brachte das Tablett nach draußen. Die Hungrigen stürzten sich auf die Brote. Die Birnen verschwanden eilig in den Taschen. Die Mutter musste das Mädchen davon abhalten, die Milch in einem Zug auszutrinken.



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