Grund und Grenze des Verstehens by Florian Priesemuth

Grund und Grenze des Verstehens by Florian Priesemuth

Autor:Florian Priesemuth
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: De Gruyter
veröffentlicht: 2020-02-10T09:19:07.695000+00:00


Schleiermacher wendet sich in den Reden allerdings nicht, wie Jochen Hörisch in Die Wut des Verstehens (1998) behauptet hat, prinzipiell gegen eine Verbindung von Religion und Hermeneutik. Vielmehr bestimmt Schleiermacher die Funktion der heiligen Schrift für die Religion in der Glaubenslehre genauer als in den Reden, in denen er zunächst nur die paulinische Differenz von Buchstabe und Geist einschärft.

Besondere Beachtung hat in der Forschung neben der Pneumatologie auch (b) die Ekklesiologie der Glaubenslehre erfahren, in der auch die Schriftlehre mitverhandelt wird. Wilhelm Christe sieht die Schriftlehre in Kirche und Welt (1996) von der Welt beeinflusst: „An zwei Punkten greift nach Schleiermacher die Welt – überwiegend negativ – in die Gestalt der Schrift ein: Der eine Punkt ist die Kanonbildung. (…) Der andere Punkt betrifft die Kanonizität und Stellung des Alten Testamentes.“386 Nicht durch die Welt, sondern durch die Christologie sieht Christoph Dinkel Kirche gestalten (1996) in der Schriftlehre einen Rahmen für die gesamte Ekklesiologie Schleiermachers aufgespannt: „Um der Wahrung der Identität der christlichen Kirche Willen ist sie (…) die Norm für alle auf sie folgenden Darstellungen des christlichen Glaubens und verbindliche Richtschnur für Lehre, Verkündigung und Leben der Kirche.“387 In seiner Interpretation der Eschatologie in der Glaubenslehre kommt auch Martin Weeber in Schleiermachers Eschatologie (2000) auf die theologische Hermeneutik zu sprechen. Er bestimmt die Funktion der Schrift für die Kirche als „Instanz, welche in zuverlässiger Kontinuität die Darstellung der Persönlichkeit Christi präsent hält.“388 Die Verortung des Lehrstücks in der Ekklesiologie ist für Weeber die Folge eines spezifisch protestantischen Kirchen- und Glaubensbegriffs.389 Michael Moxter sieht den Grund für die Umstellung des Lehrstücks darin, dass Schleiermacher „auf diese Weise Raum für einen neuen Typ der Prolegomena, der Einleitung in die Glaubenslehre“ gewinnt.390

Im Unterschied zu den bisher genannten Arbeiten haben Ulrich Barth Christentum und Selbstbewusstsein (1983) und Jörg Dierken Glauben und Lehre (1996) die Glaubenslehre primär unter systematischen Perspektiven interpretiert, die nicht aus der Theologie Schleiermachers selbst gewonnen werden. Dabei gelingt es ihnen Schleiermachers theologische Hermeneutik in der Glaubenslehre sowohl der pneumatologischen als auch der ekklesiologischen Funktion nach einzuordnen. Barths Dissertation versucht Schleiermachers Dogmatik auf eine subjektivitätstheoretische Grundlage zu stellen. Christologie und Soteriologie werden darin als Identitäts- und Differenzprinzip religiöser Selbstauslegung verstanden. Die Ekklesiologie – und darin auch die theologische Hermeneutik – „formuliert das Limitationsprinzip religiöser Selbstauslegung, indem sie die wechselseitige Begrenzung des Prinzipiierten als eine notwendige Bedingung dafür angibt, daß das Prinzipiierte die Prinzipienfunktion des Identitätsprinzips darzustellen vermag.“391 Auch in der Habilitation von Jörg Dierken Glauben und Lehre (1996) ist der Übergang von der Christologie zur Pneumatologie und Ekklesiologie von entscheidender Bedeutung für das Verhältnis von Glaubensvollzug und Glaubenslehre. Erst durch die Verbindung von Vollzugs- und Sozialitätsdimensionen des Glaubens kann Schleiermachers Glaubenslehre eine Reihe von theorieimmanenten Problemen umgehen: „In diesem Überschritt wird nicht nur der Mangel an Bestimmtheit kompensiert, der mit der vollendeten Kräftigkeit des Gottesbewußtseins im Erlöser einhergeht, sondern es wird auch die Ungeschichtlichkeit korrigiert, in der faktisch die geschichtliche Entfaltung des Christentums durch die schlechterdings transparente Individualität seines Stifters gipfelt.“392 In Bezug auf die Schrift spricht Dierken von einer „lebendigen Veränderlichkeit“ durch die Integration von Hermeneutik und Kritik.



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