Goethe schtirbt by Thomas Bernhard

Goethe schtirbt by Thomas Bernhard

Autor:Thomas Bernhard [Bernhard, Thomas]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-12-12T16:00:00+00:00


In Flammen aufgegangen

Reisebericht an

einen einstigen Freund

Wie Sie wissen, bin ich schon seit mehr als vier Monaten auf der Flucht, aber nicht, wie ich Ihnen angedeutet habe, in südlicher, sondern in nördlicher Richtung, nicht die Wärme hat mich schließlich angezogen, sondern die Kälte, nicht die Architektur, mein lieber Architekt und Baukünstler, sondern die Natur und tatsächlich diese ganz bestimmte Nord-Natur, von welcher ich zu Ihnen so oft gesprochen habe, die sogenannte Polarkreisnatur, über welche ich vor dreißig Jahren schon eine Schrift verfaßt habe, eine der zahllosen verheimlichten Schriften, Geheimschriften, die niemals zur Veröffentlichung bestimmt sind, nur zur Vernichtung, denn ich habe ja neuerdings wieder die Absicht, weiter zu leben, meine Existenz nicht nur zu verlängern, sondern in absoluter Zügellosigkeit will ich weitergehen, mein lieber Architekt, mein lieber Baukünstler, mein lieber Oberflächenscharlatan. Sozusagen im geheimen epochemachend, im insgeheimen, mein lieber Herr. Zuerst hatte ich gedacht, Ihnen unter keinen Umständen nie mehr zu schreiben, denn unser Verhältnis scheint mir ja schon so viele Jahre tatsächlich und unwiderruflich am Ende zu sein, vor allem an seinem geistigen Ende angekommen, niemals mehr einen Kontakt zu Ihnen aufzunehmen, war meine Absicht gewesen, naturgemäß Ihnen keine Zeile mehr zu schreiben, jede weitere Zeile an Sie erscheint mir schon so lange Zeit als kompletter Unsinn, an einen Menschen gerichtet, der einmal über Jahrzehnte ein Freund, ein Geistesgefährte gewesen ist, schließlich aber doch über so viele Jahrzehnte nurmehr noch Feind, ein Feind meiner Gedanken, ein Feind meines Denkens, ein Feind meiner Existenz, die doch nichts als eine Geistesexistenz ist. Ich hatte Ihnen mehrere Briefe in Wien und in Madrid, schließlich in Budapest und Palermo geschrieben, aber diese Briefe nicht abgeschickt, tatsächlich alle diese Briefe adressiert und frankiert, aber nicht abgeschickt, um nicht Opfer einer gemeinen Geschmacklosigkeit zu werden. Ich habe diese Briefe vernichtet und mir geschworen, Ihnen keine Zeile mehr zu schreiben, wie allen andern auch Ihnen keine Zeile mehr. Ich gestattete mir keine Korrespondenz mehr. So reise ich mehrere Jahre durch Europa und Nordamerika, möglicherweise in einer nutzlosen Verrücktheit, wie Sie sagen würden, ohne Kontakte, ohne Korrespondenz, weil meine Mitteilsamkeit auf einmal abgestorben war, nachdem ich sie mir jahrelang verweigert gehabt hatte. Ich ging sozusagen in mich und ging nicht mehr aus mir heraus. Ich kann aber nicht sagen, daß diese Zeit sinnlos gewesen wäre für mich. Kurz und gut, ich schrieb mehrere Artikel für die Times, die naturgemäß nicht erschienen sind, weil ich sie nicht an die Times abgeschickt habe, nachdem ich mich in Oslo festgesetzt hatte im wahrsten Sinne des Wortes. Oslo ist eine langweilige Stadt und die Menschen dort sind ungeistig, vollkommen uninteressant, wie möglicherweise alle Norweger, das ist eine Erfahrung, die ich allerdings erst viel später gemacht habe, nachdem ich bis in die Höhe von Murmansk gekommen bin. Eine in Mitteleuropa bis heute vollkommen unbekannte Hunderasse, den sogenannten Schaufler, habe ich dort kennengelernt, außer daß das Essen schlecht und der norwegische Kunstgeschmack niederträchtig ist. Ein völlig unphilosophisches Land, in welchem jede Art von Denken in der kürzesten Zeit erstickt. Ich versuchte es in einem



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