Goethe als Naturforscher by Rudolf Magnus
Autor:Rudolf Magnus [Magnus, Rudolf]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Biografien & Erinnerungen, Naturwissenschaften & Technik, Wissenschaftsgeschichte, Technik & Naturwissenschaften
Herausgeber: ModerneZeiten Publishing
veröffentlicht: 2012-01-11T23:00:00+00:00
VII. Die Farbenlehre I – Physiologische Optik
»Die Geschichte der Wissenschaft nimmt immer auf dem Punkte wo man steht ein gar vornehmes Ansehen; man schätzt wohl seine Vorgänger und dankt ihnen gewissermaßen für das Verdienst das sie sich um uns erworben; aber es ist doch immer, als wenn wir mit einem gewissen Achselzucken die Grenzen bedauerten worin sie oft unnütz, ja rückschreitend sich abgequält; niemand sieht sie leicht als Märtyrer an die ein unwiederbringlicher Trieb in gefährliche, kaum zu überwindende Lagen geführt, und doch ist oft, ja gewöhnlich, mehr Ernst in den Altvätern die unser Dasein gegründet, als unter den genießenden, meistenteils vergeudenden Nachkommen.« Dieses Goethesche Wort wollen wir als Motto über unsere Besprechung der Farbenlehre setzen, denn was Schiller von Wallenstein sagte, gilt für kein Buch mehr als für dieses:
»Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.«
Gleich nach seinem Erscheinen von den Physikern vollständig abgelehnt und aufs heftigste verurteilt, von einigen der bedeutendsten zeitgenössischen Physiologen, wie Purkinje und Johannes Müller, außerordentlich geschätzt, wurde es in der Mitte des Jahrhunderts fast vergessen und selbst Helmholtz wird seiner Bedeutung keineswegs gerecht. Erst in den letzten Jahrzehnten erweckt es wieder das Interesse der Gelehrten. Während die Physiker auf ihrem ablehnenden Standpunkt verharren müssen, finden die Physiologen hier zahlreiche Tatsachen und Anschauungen niedergelegt, welche in der letzten Zeit zu den Grundlagen der physiologischen Optik geworden sind.
Die Würdigung des Inhalts der Farbenlehre ist daher eine schwierige Aufgabe, und wir wollen den Gang der Darstellung, den wir bei den früheren wissenschaftlichen Werken Goethes gewählt haben, hier verlassen. Ich will Ihnen nicht zuerst den Inhalt von Goethes Schriften mitteilen und danach entwickeln, welches die allgemeinen leitenden Gedanken und die gewichtigen, wissenschaftlichen Resultate sind, sondern ich möchte Ihnen zunächst in dieser Vorlesung eine kurze sinnes-physiologische Einleitung geben, damit Sie in den Stand gesetzt werden, aus eigener Kenntnis die Probleme, um deren Lösung Goethe sich bemühte, zu begreifen. Denn die Farbenlehre gründet sich nicht nur auf physikalische Tatsachen, sie gehört vielmehr zu einem wesentlichen Teil der Sinnesphysiologie an. Durch unser Auge empfangen wir erst optische Eindrücke, Licht und Farbe. Zu Beginn muss nun gleich bemerkt werden, dass alle die Tatsachen und Erwägungen, die ich Ihnen jetzt vortragen werde, zu Goethes Zeiten noch so gut wie unbekannt waren. Während wir heute mit verhältnismäßiger Leichtigkeit die Probleme beurteilen können, legten Goethe und seine sämtlichen Vorgänger und Zeitgenossen sich derartige sinnesphysiologische Fragen überhaupt noch nicht vor. Wir haben es jetzt leicht, in Goethes Werk das Gold von den Schlacken zu sondern. Der damaligen Zeit war dies keineswegs geläufig.
Goethes Farbenlehre enthält zunächst einmal eine genaue und ganz mustergültige Darstellung der Tatsachen. Die verschiedenen Arten der Farbenerscheinungen und die Methoden, sie hervorzurufen, werden mit unerreichter klassischer Anschaulichkeit geschildert, mit einer Treue, dass jeder mit Leichtigkeit alle Versuche selber anstellen kann. Erst auf Grund dieser Goetheschen Schilderung der Erscheinungen und in bewusster Anlehnung an Kants Kritik der reinen Vernunft hat zunächst Schopenhauer die Farbenlehre für die Physiologie in Anspruch genommen, und danach Johannes Müller die wissenschaftliche physiologische Optik begründet; von deren Fortentwicklung durch Helmholtz und Hering werden wir noch später zu sprechen haben.
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