Glaube, Führer, Hoffnung by Wiborg Susanne & Wiborg Jan Peter
Autor:Wiborg, Susanne & Wiborg, Jan Peter [Wiborg, Susanne & Wiborg, Jan Peter]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783956140419
Herausgeber: Verlag Antje Kunstmann
veröffentlicht: 2015-04-29T16:00:00+00:00
STETTIN, MÄRZ 1945:
»… DEN BRAND WÜRF ICH HINEIN MIT EIGNER HAND«
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»SO, MEINE BESTE MUTTI. Gestern war nun der historische Tag, an dem unsere kleine Stadt im OKW-Bericht in aller Welt genannt wurde. So bitter, wie das Gefühl sein mag, Mutti, was uns dieses Fleckchen Erde immer bleibt – Heimat unserer Herzen, Land unserer Jugend – jetzt erst wird es mir klar. Und, mir kam das Gefühl, das in ›Tell‹ Gertrud Stauffacher ausspricht: ›Weiß ich mein Herz an zeitlich Gut gefesselt, den Brand würf ich hinein mit eigener Hand!‹ Wenn sie uns wirklich gehören, unsere Bücher und Bilder, dann kann auch kein Feind sie uns rauben und niemand sie uns nehmen, außer, er nähme uns selbst das Leben.«
Die kleine Stadt, um die so hart gekämpft wird, ist Cammin. Die Familienheimat über Jahrhunderte, die heile Welt, mit deren Verlust das große Heimweh angefangen hat. »Jeder Kämpfer ist gewillt, seinen Mann zu stehen und die Heimat vor den viehischen Horden des Ostens zu retten«, hat die parteiamtliche Camminer »Kreiszeitung« getönt, doch auch hier sind die Kämpfer zum großen Teil nur noch Volkssturm-Senioren und Hitlerjungen. So geht die alte pommersche Bischofsstadt in Flammen und Trümmern unter. Elises Zuhause, das kleine Häuschen in der Mühlenstraße, wird zerschossen und verbrannt, die Schützenstraße, das Rathaus und der Marktplatz überdauern schwer beschädigt. Clara schreibt am 4. März, zwei Tage später muss Cammin aufgegeben werden. Um die nahen Oderübergänge bei Dievenow toben dagegen noch lange erbitterte Kämpfe, die auch Zehntausende von Flüchtlingen das Leben kosten. Der weiße Ostsee-Traumstrand ist buchstäblich mit Leichen übersät.
Davon weiß Clara noch nichts, als sie der Mutter, die ebenfalls ohne Nachrichten ist, schreibt. Wie stark der Druck aber auch auf ihr lastet, ist aus ihrem Brief deutlich abzulesen: Sie holt die zur Hilfe, die ihr in schwierigen Zeiten immer beigestanden haben: die deutschen Klassiker. Schiller und Brentano müssen diesmal her, um zu verstärken, was sie sagen möchte:
»Es ist Voralarm, daher ist etwas Zeit. Gestern bei Vollalarm hab ich Vati geschrieben. Es ist schwierig und sicher bestehen meine Worte nicht vor der Zensur, denn ich kann ja nicht anders, als aus der Zeit heraus zu schreiben und zu denken. Aber angestrengt hab ich mich, ›neutral‹ zu bleiben.
Neutral: Zum Hassen und zum Lieben ist alle Welt getrieben.
Es bleibt ihr keine Wahl, nur der Teufel ist neutral. (Clemens von Brentano)
Ich singe diese Strophe eben, weil ich sie so gern hab. Singst du mit? Preisfrage: Wo steckt Kristinchen? Bei mir ist sie nicht wieder aufgetaucht. Ich mache mir Sorgen. Ob sie noch bei Dir ist? Ich bin sehr gespannt, wie sich dieses Rätsel löst. Wenn das klar ist, Muttilein, alles andere kriegen wir hin. Abwarten, auch wenn es nun ganz Ostpommern kosten soll. Um uns und unser Liebstes geht es ja nicht, sondern um das Reich.
Hab Dank für Deine lieben Briefe, die sind jetzt immer mein Feierabend, Mutti. Ich lese sie sehr, sehr oft. Jetzt ballert es – kleine Russen über uns. – Meine Führerinnen kommen wieder nicht durch. Zu blöde, diese ewigen Störungen. Aus Kurland schrieb mir gestern abend Kato so gut und stark wie immer.
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