Glaube wenig - Hinterfrage alles - Denke selbst by Albrecht Müller
Autor:Albrecht Müller [Müller, Albrecht]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Journalismus, Medienkritik, Gesellschaft, Skeptizismus, Manipulation, Debunking
ISBN: 9783864897115
Herausgeber: Westend
veröffentlicht: 2019-09-30T22:00:00+00:00
4. Wir sind Exportweltmeister
Vernünftige Ökonomen wissen: Wenn verschiedene Volkswirtschaften und das heißt auch verschiedene Völker wirtschaftlich gut und vernünftig kooperieren wollen, dann sollte die Bilanz ihrer Exporte und Importe von Dienstleistungen und Gütern auf mittlere Sicht ausgeglichen sein. Wenn ein Land für längere Zeit Leistungsbilanzüberschüsse erzielt, erwirtschaftet, erreicht, dann müssen andere – saldenmechanisch zwingend – Defizite einfahren. Man merkt schon an der Sprache, die hier gebraucht wurde, dass diese nicht der Vernunft des Umgangs untereinander und miteinander entspricht. Das Wort »Überschüsse« signalisiert etwas Positives, das Wort »Defizit« signalisiert ein Malheur, ein Versagen. Und auch die zuvor verwendeten Verben enthalten für die Überschüsse eher positive Elemente: erzielt, erwirtschaftet, erreicht – alle positiv aufgeladen.
Findige Politiker und Politikerinnen nutzen diese Bewertungskonstellation. Folglich rühmt sich die deutsche Bundeskanzlerin Merkel der Exportüberschüsse und der »Exportweltmeisterschaft«. Und Länder, die ein außenwirtschaftliches Defizit erleiden, werden scheel angesehen, kritisiert, bestenfalls zur Besserung ermahnt. So war der Umgang mit Griechenland, mit Spanien, mit Italien. Mit dieser egoistischen Politik und Agitation haben Bundeskanzlerin Merkel und einige ihrer Finanzminister – von Wolfgang Schäuble bis Peer Steinbrück – nicht nur zu einer tiefen Spaltung Europas beigetragen, sondern auch zu einer Schädigung des Rufs Deutschlands bei den betroffenen Völkern. Dass Merkel und Schäuble dennoch ein gutes Image in Europa haben, hat wiederum viel mit Meinungsmache zu tun.
Sich der Exportüberschüsse zu rühmen, ist realökonomisch betrachtet nicht angebracht. Ein Land, das Exportüberschüsse oder – unter Einbeziehung der Dienstleistungen – Leistungsbilanzüberschüsse erzielt, erwirbt dafür Forderungen an Defizitländer. Tatsächlich wird auf diese Weise Wohlstand exportiert. Man exportiert mehr, als man importiert. Wer das auf Dauer tut, lebt unter seinen Möglichkeiten. Folgerichtig haben der frühere Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller und die Wahlkampfplaner der SPD im Jahre 1969, als die Bundesrepublik mit einer unterbewerteten D-Mark hantierte und wie heute hohe Exportüberschüsse erzielte, genau diesen realen Transfer von Wohlstand beklagt. Damals wurde in einem Anzeigenentwurf formuliert: »Wir verschenken jeden 13. VW«. Schiller forderte deshalb die Aufwertung der D-Mark, statt sich der hohen Exportüberschüsse zu rühmen.
Tatsächlich war die Aussage berechtigt und das Begehren nach einer Aufwertung der D-Mark auch. Nach dem Regierungswechsel von Bundeskanzler Kiesinger (CDU) zu Bundeskanzler Brandt (SPD) im Oktober 1969 wurde die D-Mark um 8,5 Prozent aufgewertet.6 Damit verbunden war ein realer Wohlstandsgewinn für die deutsche Volkswirtschaft.
Dieses 1969 noch vorhandene Wissen um die realen Verhältnisse in den ökonomischen Relationen zwischen den Volkswirtschaften ist heute nahezu verschwunden. Merkel kann sich, ohne rot zu werden, der Exportüberschüsse rühmen. Das ist auch Folge einer wenig aufgeklärten wirtschafts- und währungspolitischen Debatte in den deutschen Medien und wohl auch das Ergebnis des Umstandes, dass viel zu wenige Menschen kritisch hinterfragen.
Das wäre dringend nötig, denn die währungspolitische Schlagseite hat inzwischen quantitativ Dimensionen erreicht, die beunruhigen. 2018 hat Deutschland einen Leistungsbilanzüberschuss von ca. 249 Milliarden Euro gehabt – fast hätte ich statt »gehabt« »erzielt« geschrieben. So sehr ist uns in der Sprache die falsche Wertung volkswirtschaftlicher Zusammenhänge schon eingebläut. Das geschieht auf vielen Ebenen und durch die verschiedenen Institutionen. Typisch ist zum Beispiel ein Text der Bundeszentrale für politische Bildung vom 30. April 2019.7 Da ist von Rangfolge und vom Exportweltmeister die Rede.
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