Glasgesichter [10.11.14] by Cordula Hamann

Glasgesichter [10.11.14] by Cordula Hamann

Autor:Cordula Hamann [Hamann, Cordula]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783956490729
Google: Y0j1oAEACAAJ
Barnesnoble:
Herausgeber: MIRA Taschenbuch
veröffentlicht: 2014-10-31T23:00:00+00:00


15. KAPITEL

Er hatte in Berlin übernachtet. Jetzt gönnte er sich ein Frühstück in einem Straßencafé. Er sehnte sich danach, nach Hause zu fahren, um Kraft für seine große Aufgabe zu tanken, die ihn dieses Mal vor eine neue Herausforderung stellte. So, wie er Andrea Wahrig einschätzte, würde sie irgendwann einknicken und die Ausstellung absagen. Doch dann würde er Ersatz für ihre Mutter brauchen, denn es widerstrebte ihm, sie trotzdem auszuwählen. Sie hatte einen Namen und eine Geschichte. Wohin so etwas führen konnte, hatte er ja bei Marlies von Graefen erlebt. Allein ihr flehendes „Anna“ hatte ihn dazu gebracht, seine jahrzehntelange Routine zu durchbrechen. Nein. Es würde schon ein passendes Model irgendwo anders geben, nicht so perfekt, aber ähnlich. Oder war es doch göttliche Fügung, dass Andreas Mutter seiner eigenen so ähnelte? Sollte das ein Hinweis sein? So, wie schon der Bruch der Reihenfolge? Ein Hinweis, endlich sein Werk zu vollenden. Er würde aufmerksam bleiben müssen, um nicht die falsche Wahl zu treffen.

Er wartete auf sein Frühstück und ließ dabei kein Auge von der Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie war schlank und hatte braunes dichtes Haar. Die Frau blieb stehen, sah erst ins Schaufenster, als sehe sie sich die Auslage an. Doch sie schien ungeduldig zu sein und rief in Richtung der Ladentür. Ein Junge kam aus dem Geschäft, acht, vielleicht auch schon zehn Jahre alt. Seine Mundwinkel tief nach unten gezogen wie bei einem Kleinkind. Er maulte, und die Frau, offenbar seine Mutter, schimpfte zurück. Der Junge tat ihm leid. Warum schrie die Frau so, dass der Junge nicht dagegen ankam? Hasste er seine Mutter dafür? Offenbar wollte er etwas aus dem Laden, wollte es unbedingt – und in diesem Moment nichts anderes auf der Welt. Er selbst kannte dieses Gefühl. Auch er wollte etwas um jeden Preis, wenn es losging. Aber nicht jetzt. Die Aufregung und das Kribbeln in der Magengegend, sie waren weg, als der Junge dazugekommen war. Die Frau am Schaufenster drehte sich in diesem Moment um und lief los. Der Junge stand noch ganz still, die Arme hingen herab, und der Kopf war gesenkt. Fast so, als wollte er einschlafen. Und er war sich ganz sicher, dass der Junge in seinen Träumen in den Laden zurückgehen würde, um sich einfach zu nehmen, was sein Herz begehrte. Er würde sich das Superman-Kostüm überziehen, das auf dem Ständer vor dem Spielzeugladen hing, alles greifen, was seine Hände festhalten konnten – und dann heraus aus dem Laden. Er würde durchstarten und über alle hinwegfliegen, mit den Wunschsachen im Arm. Sollten die Leute sich doch wundern und seine Mutter schreien. Er würde ihnen einfach davonfliegen.

Aber der Junge ging nicht zurück in das Geschäft, sondern folgte seiner Mutter, die sich nicht einmal mehr zu ihm umdrehte.

Als die Bedienung das Frühstück brachte, war sein Puls ganz ruhig, und er konnte sie freundlich anlächeln. Er sah hinüber zur anderen Straßenseite, doch Frau und Junge waren weg. Er aß, zahlte und ging dann langsam weiter durch die Straßen der Großstadt, die er eigentlich nicht mochte.



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