Geschichten vom Pferdehof by Lise Gast

Geschichten vom Pferdehof by Lise Gast

Autor:Lise Gast [Gast, Lise]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Saga
veröffentlicht: 2016-04-21T00:00:00+00:00


2

In den ersten Stunden saß ich da und dachte immerzu nach. Ich wußte nicht einmal, welches Fach gerade dran war. Später wachte ich dann auf. Inge, die neben mir sitzt, fragte, ob ich Liebeskummer hätte. Liebeskummer – ich zeigte bloß an die Stirn. „Ihr habt Sorgen!“ murmelte ich. In Biologie kam ich dann dran und mußte mich zusammennehmen; weil mich Biologie interessiert, ging es dann auch.

Inge dachte zuerst, sie müsse mir vorsagen. Aber das war nicht nötig. Es handelte sich um den Blutkreislauf. Darüber weiß ich Bescheid, weil ich ihn sehr interessant finde, gut durchdacht, sozusagen. Später möchte ich gern Medizin studieren.

Zum erstenmal an diesem Tag wurde ich meine Bedrückung etwas los. Als ich mich setzte, markierte Inge unter der Bank Beifallklatschen. Ich trat sie ans Schienbein. Sie stöhnte übertrieben und tat, als sei es gebrochen.

Die nächste Stunde hatten wir Französisch. Unser Französischlehrer ist sehr beliebt, jung noch; er unternimmt in den Ferien immer etwas mit Schülerinnen. Einmal fuhr er mit allen aus der Klasse, die mitdurften, nach Frankreich, um Kriegsgräber zu pflegen. Und dieses Jahr leitet er ein deutsch-französisches Ferienlager in der Lüneburger Heide.

Ich habe bisher nie so etwas mitmachen dürfen. Aber für dieses Jahr habe ich die Erlaubnis bekommen.

Wenn ich daran denke, ist mir immer, als könne ich tiefer atmen. Frei sein – endlich einmal frei sein, nicht immerzu hören: „Halt dich gerade!“, „Sei nicht so laut!“, „Hast du schon Schularbeiten gemacht?“, „Du könntest mir eigentlich flink ...“ und dann kommen die Aufträge. Einmal hinaus, nicht mehr gegängelt werden, machen können, was man will. Wird das wohl tun!

Früher fuhren wir mit den Eltern in den großen Ferien nach Flensburg zu den Großeltern. Sie wohnen ziemlich nahe am Strand, und wir hatten dort schöne Ferien, jedes Jahr. Jetzt seien die Großeltern zu alt, sagt Vater – vielleicht will er aber auch die Reisekosten sparen. Seit wir gebaut haben, geht es bei uns immer ums Sparen. Ständig heißt es: „Ihr wißt, unser Haus! Wir müssen erst einmal die Schulden loswerden.“ Und wenn wir erzählen, daß unsere Klassenkameraden eigentlich alle verreisen, dann heißt es:

„Ihr habt den Garten, und das Schwimmbad ist auch nicht weit. Andere Kinder wären froh, wenn sie es so hätten. Seid dankbar ...“ Dabei haben wir in den Ferien natürlich die gleichen häuslichen Pflichten wie in der Schulzeit, wenn nicht noch mehr. „Hilf mal, faß mal mit an, du hast doch Zeit!“ Und was nützt das eigene Haus, wenn wir drin still sein müssen wie in einer Mietwohnung, und der Garten, wo man sich nicht auf den Rasen legen und ungestört schmökern darf?

„Was sollen denn die Nachbarn sagen!“ heißt es dann „Komm, hilf mir beim Einkochen!“

Dieses Jahr darf ich also das erstemal fort. Mutter hat es fest versprochen und Vater halb fest – wie es so seine Art ist: „Mal sehen, wie du dich bis dahin benimmst.“ Das macht mich wütend. Ich bin kein Kind mehr, das belohnt wird, wenn es „brav“ war. Ich brauche meinen Urlaub genau wie jeder andere Mensch; und zu Hause habe ich keinen Urlaub.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.