Geschichte der römischen Literatur by Baier Thomas
Autor:Baier, Thomas
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406692796
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2016-07-12T16:00:00+00:00
b) Neoterische Dichtung
C. VALERIUS CATULLUS (geb. um 84 v. Chr. in Verona, gest. um 54 v. Chr.) stammte aus einem patrizischen Geschlecht. Er lebte in Rom, spielt in der Dichtung aber immer wieder auf die norditalienische Heimat an. 57/56 war er dem Proprätor C. Memmius in die Provinz Asia Minor gefolgt. Vermutlich besuchte er auf der Reise das Grab seines Bruders in der Troas (s.S. 60).
Sein Werk umfaßt 116 Gedichte, die sich in drei Gruppen einteilen lassen: 1–60: kleine polymetrische Gedichte, 61–68: große Gedichte, die jeweils auf unterschiedliche Weise mit dem Thema ‹Hochzeit› oder ‹Erfüllung und Trennung einer Verbindung› zu tun haben, 69–116: Epigramme; ob diese so verschiedenen Dichtungen von Catull selbst als ein Buch herausgegeben wurden, ist umstritten. Das Widmungsgedicht (c. 1) stellt die Sammlung in die alexandrinische Dichtungstradition des Kallimachos (kleine, ausgefeilte Gedichte, die als «beiläufige Scherze», nugae, charakterisiert werden). Liebe, Liebesleid und Trennung von der Geliebten, die Catull aus Verehrung für die griechische Dichterin Sappho aus Lesbos mit dem Pseudonym ‹Lesbia› benannte (Ov. trist. 2,427f.), nehmen breiten Raum ein. Sie war ihm zugleich ‹schöne Helena› (Prop. 2,3,32) und inspirierende Muse (Mart. 8,73,8). Nach Apuleius (apol. 10) handelte es sich um Clodia, die Schwester des Cicero-Gegners P. Clodius Pulcher, deren Lebenswandel in der Cicero-Rede Pro Caelio eindrucksvoll geschildert wird. Sappho als Vorbild ist wiederum eine Dichterin, die wie Catulls Liebesdichtung gegen traditionelle Geschlechterrollen verstößt; Horaz (epist. 1,19,28) nennt sie vielleicht deshalb mascula Sappho («männliche Sappho»). Die Lesbia-Gedichte führen Etappen einer Beziehung vor. Den Anfang bildet carmen 51, als der Dichter Lesbia, vielleicht bei einem Gastmahl, beobachtet – eine Übertragung von Sappho (31 L.-P.) in sapphischem Versmaß, die jedoch durch einen überraschenden eigenen Schluß erweitert ist, in dem Catull seinen Zustand als otium (hier: «Lähmung, Nichtstun») bezeichnet. Das ist ein Kontrast zu Sappho, aber auch zum philosophisch-politischen otium-Begriff eines Cicero und nimmt die provokante Ablehnung traditioneller Lebensformen durch die Elegiker vorweg. Die Passer («Sperling»)-Gedichte könnten auf die strouthoi (griech. «Sperlinge») anspielen, die im ersten Sappho-Gedicht den Wagen Aphrodites ziehen, und die etwa bei dem Lexikographen Festus (2. Jh. n. Chr.) als Inbegriff der salacitas («Geilheit») und Metonymie für das membrum virile gelten. Im ersten Passer-Gedicht (c. 2) beneidet der Dichter den Vogel, der stets bei Lesbia sein darf und wird sich angesichts dessen seiner Hilflosigkeit bewußt, im zweiten (c. 3) betrauert er den Tod des Tiers, weil Lesbia darüber traurig ist und er mit dem trauernden Mädchen nichts anfangen kann. Carmen 8 schildert die Qualen, die der Dichter angesichts der Treulosigkeit der Freundin auszuhalten hat. Das Metrum des Gedichts, Hinkjamben, unterstreicht die erbärmliche Figur des Liebhabers vor dem stolzen Mädchen. Die Gedichte 11 und 76 besiegeln die Trennung von Lesbia. In carmen 11 erhalten Furius und Aurelius den Auftrag, Lesbia den Scheidungsbrief zu hinterbringen. Diese Formalie, die eigentlich nur in einer Ehe, nicht in einer Libertinenliebe erforderlich ist, zeigt, daß Catull seine Beziehung im Sinne des foedus aeternum («ewiges Bündnis») der Ehe gleichstellt. In carmen 76 will sich der Dichter innerlich von Lesbia trennen, doch kommt in den Schlußversen,
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