Geschichte denken by Jörn Rüsen
Autor:Jörn Rüsen
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783658292751
Herausgeber: Springer Fachmedien Wiesbaden
6.8 Ursprung und Ziel der Geschichte: Die Idee der Menschheit
Was bedeutet Humanisierung des Menschen als Richtungsbestimmung in den zeitlichen Veränderungen des Menschen und seiner Welt? Richtung nimmt ihren Ausgang von einer bestimmten Gegebenheit des Menschseins und zielt auf ein Ende. In der Bewegung vom Ausgang zum Ende muss sich etwas durchhalten vom Menschsein des Menschen und zugleich verändern.14 Ausgangspunkt ist der anthropologische Befund, dass in allen Kulturen und zu allen Zeiten der Mensch in der Selbstdeutung seiner selbst und seiner Welt sich eine Auszeichnung gegenüber allen anderen Wesen seiner Welt zugeschrieben hat, nämlich die Qualität, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu müssen. Diese Auszeichnung verbindet sich mit der Vorstellung, für sein eigenes Tun und Lassen verantwortlich zu sein. Damit einher geht ein Konzept von subjektiver Kohärenz, von einer Einheit der Person in ihrem Handeln und Leiden. Diese Einheit ist zugleich sozial ausgerichtet; zum Selbstverhältnis des Menschen gehört die Fähigkeit zur Empathie mit andern, aber auch die Fähigkeit zur Unterscheidung von Zugehörigkeit und Abgrenzung im Verhältnis zu anderen Menschen.
Diese Auszeichnung des Menschen lässt sich in einer universalhistorischen Perspektive verzeitlichen. Am Anfang steht die Einschränkung der Menschlichkeit auf die eigene Gruppe mit einer entsprechenden Doppelmoral im Verhältnis von Zugehörigkeit und Abgrenzung. Die weitere Entwicklung ist durch eine Universalisierung der Menschheitsqualität auf alle Menschen charakterisiert. Für die geschichtsphilosophische Explikation dieses Prozesses der Universalisierung spielt der Gesichtspunkt von Achsenzeiten, wie er von Karl Jaspers in multikultureller Ausweitung der Geschichtsphilosophie konzipiert wurde, eine wesentliche Rolle.15 In einer ersten Achsenzeit erfolgt die Ausdehnung der Menschheitsqualifikation auf alle Menschen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten. In diesen Kontexten (Indien, China, das Abendland) prägt sich die universelle Menschheitskonzeption ethnozentrisch aus: Das eigene Menschsein wird von demjenigen der anderen als menschlicher, als eigentlicher, als paradigmatisch angesehen. (Es verdient angesichts der gegenwärtigen postkolonialen Strömungen des historischen Denkens festgehalten zu werden, dass dieser Ethnozentrismus keine typisch westliche Haltung und Einstellung darstellt, sondern allgemein verbreitet war und ist.)
Karl Jaspers hatte diese Achsenzeit chronologisch definiert und damit eine Denkweise der älteren Geschichtsphilosophie (etwa Hegels) übernommen, diese allerdings multikulturell erweitert. Mit dieser chronologischen Festlegung sind freilich Einschränkungen in der Wahrnehmung und Interpretation von Menschheitsvorstellungen in den unterschiedlichsten Kulturen verbunden. Demgegenüber sollte erwogen werden, das Epochenkriterium der Achsenzeit, die Universalisierung der Menschheitsqualität, als idealtypisches Konzept der Rekonstruktion epochaler historischer Entwicklungen zu konzipieren und ihm damit eine chronologische Fixierung zu nehmen, es also offen für alle Zeiten zu machen.
Die Gegenwart in der Epoche der Modernisierung kann und sollte als eine zweite Achsenzeit verstanden werden. Ihr Unterschied zur ersten bestünde darin, dass die dort vollzogene Universalisierung der Menschheitsqualität eine neue Form annimmt. In ihr wandelt sich die wechselseitige Exklusion kulturell differenter Menschheitsvorstellungen mit entsprechenden konfliktgeladenen ethnozentrischen Konfigurationen in eine Inklusion: Differenz und Anderssein erscheinen nicht mehr als Mangel, sondern als Vielfalt unterschiedlicher Manifestationen einer gemeinsamen kulturell verfassten Menschennatur. Im Anderssein der andern kommt dann etwas Eigenes in den Blick, und damit regelt sich das Verhältnis zwischen Eigenem und Anderem nach dem Gesichtspunkt wechselseitiger Anerkennung (was Kritik einschließt).
Diese Transformation von Exklusion in Inklusion ist ein aktueller Vorgang, mehr ein Sollen als ein Sein.
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