Geschichte Tschechiens by Bahlcke Joachim
Autor:Bahlcke, Joachim [Bahlcke, Joachim]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406661808
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2014-10-25T04:00:00+00:00
Die Formierung der tschechischen Nationalgesellschaft
In ganz Ostmitteleuropa eröffneten die Revolutionen der Jahre 1848/49, die in diesem Raum Hoffnungen auf bürgerliche Freiheiten mit Forderungen nach nationalen Rechten verbanden, schlagartig die Perspektive einer politischen Neuordnung. Der euphorisch aufgenommene Sturz Metternichs am 13. März 1848 löste nicht nur in Prag, sondern auch in Pressburg, Pest, Posen, Lemberg, Krakau und Agram eine Flut von Memoranden und Petitionen an den Kaiser aus. Auf tschechischer Seite erhoben sich erstmals Stimmen, die eine Zerschlagung des Kaisertums Österreich und die Wiedererrichtung eines böhmischen Staates in Erwägung zogen. Bei den Deutschen entstanden Gedankenspiele, die von ihnen besiedelten Gebiete Böhmens und Mährens abzuspalten und den benachbarten deutschen Staaten anzuschließen. Bei all diesen Fragen spielten internationale Zusammenhänge, besonders die Frage nach der künftigen Gestalt eines national geeinten Deutschland, eine erhebliche Rolle.
Im Zentrum der politischen Agitation, in Prag, hatte eine große Bürgerversammlung Anfang März 1848 die Aufhebung der Untertänigkeitsverhältnisse verlangt, die vollständige Gleichstellung der tschechischen Nationalität und Sprache mit der deutschen in den Schulen und vor Gericht, die administrative Vereinigung der böhmischen Länder innerhalb der österreichischen Monarchie und die Konstituierung eines Gesamtlandtags. Die Stimmung vor allem unter den Tschechen verschärfte sich jedoch rasant, zumal Wien auf diesen Forderungskatalog nur ausweichend reagierte. In der Erstausgabe der Národní nowiny (Nationalzeitung), der ersten großen tschechischen Tageszeitung, äußerte Havlíček am 5. April 1848 in aller Offenheit, dass den Tschechen nicht zuletzt aufgrund ihrer Bevölkerungszahl die Vorherrschaft in den böhmischen Ländern zustehe. Unter den Deutschen wiederum ließ diese Entwicklung die Furcht aufkommen, ihre Vorrangstellung einzubüßen und in kurzer Zeit vollends in die Defensive gedrängt zu werden. Wie rasch der nationale Trennungsgedanke in jenen Monaten an Boden gewann, lässt sich an der Gründung des «Vereins der Deutschen aus Böhmen, Mähren und Schlesien zur Aufrechterhaltung ihrer Nationalität» in Wien ablesen. Der Verein, so sein Initiator, der Deutschböhme Ludwig von Löhner, verstehe sich zuvorderst als Schutzdamm gegen die «Slawomanen».
Das politische Programm des tschechischen Bürgertums wird aus einem Schreiben ersichtlich, das František Palacký, der in den vorangegangenen Jahren zur führenden Autorität der tschechischen Nationalbewegung avanciert war, am 11. April 1848 an den Ausschuss des Frankfurter Vorparlaments richtete. Auch der Prager Historiker war aufgefordert worden, für die geplante deutsche Nationalversammlung zu kandidieren. Palacký lehnte jedoch nicht nur die Einladung ab, er wies auch alle Ansprüche von deutscher Seite auf eine Eingliederung der böhmischen Länder in einen deutschen Nationalstaat strikt zurück. Gleichzeitig plädierte er für den Fortbestand eines unabhängigen, multinationalen Habsburgerstaates, der gerade den kleinen slawischen Völkern des östlichen Mitteleuropa wirksamen Schutz gewähre. Dies sei allerdings nur in einem österreichischen Staat möglich, der die völlige Gleichberechtigung der in ihm lebenden Nationalitäten zugestehe und auf Dauer gewährleiste. Im ersten gesamtdeutschen Parlament waren zwar schließlich 68 Abgeordnete aus den böhmischen Ländern vertreten, unter ihnen aber keine Tschechen, sie hatten eine Teilnahme kategorisch abgelehnt. Im Juni 1848 organisierten sie als Gegenveranstaltung zur Paulskirche einen Slawenkongress in Prag, der die politischen Anliegen der im Kaisertum Österreich lebenden Slawen erörtern und nach gemeinsamen Positionen suchen sollte.
Die hitzigen Debatten über die Sprachenfrage auf dem im Juli einberufenen verfassunggebenden Reichstag
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