Gert Ledigs gewaltsamer Stil by Florian Hoppe
Autor:Florian Hoppe
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: De Gruyter
veröffentlicht: 2020-01-20T14:33:09.901000+00:00
6.5.2
Die Stalinorgel und Faustrecht: Kampftraumata
Ãhnlich wie in Vergeltung rückte Ledig auch schon in Die Stalinorgel vor allem die traumatische Situation als solche in den Vordergrund. Bei deren Analyse müssen nun jedoch auch andere Parameter betrachtet werden, da hier ausschlieÃlich Soldaten betroffen sind, für die die Gewalterfahrung keineswegs auÃerhalb ihres normalen Erfahrungshorizontes steht. âGewalt gehörte zu ihrem Referenzrahmen, das Töten zu ihrer Pflichtâ.100 Diese Alltäglichkeit der Gewalt geht gleichwohl nicht mit einer Gewöhnung daran einher. Dass es im Zweiten Weltkrieg kaum abnorme Reaktionen (Traumatisierungen) bei deutschen Soldaten gab, ist vor dem Hintergrund der bereits beschriebenen Mechanismen zur âErhaltung der Manneszuchtâ und zur Vermeidung von Wehrkraftzersetzung zu betrachten. So führt Kurt Kolle die verhältnismäÃig wenigen entsprechenden Fälle darauf zurück, dass mit so harter Hand geherrscht wurde; stattdessen äuÃerten sich die Beschwerden eher physisch in Form von Bauch- oder Unterleibsschmerzen.101
Problematisch war für die Betroffenen in erster Linie die in der Wissenschaft der Zeit vorherrschende Meinung, die auch noch viele Jahre nach dem Krieg Bestand haben sollte, dass eine Neurose ohne körperliche Schädigung ihre Ursache auÃerhalb der Kriegssituation haben müsse.102 Wer abnorme Reaktionen ohne erkennbare physische Grundlage zeigte, geriet nach dieser Logik in den Ruch einer erblichen Labilität oder Geistesschwäche, was aufgrund der Herrenmenschenideologie nicht nur ein soziales Stigma bedeutete, sondern angesichts einer Wehrmachtsjustiz, die âFeiglingeâ, âminderwertige Wehrmachts-â und âVolksschädlingeâ sowie âtreulose Schwächlingeâ103 im Sinne der âErhaltung der Manneszuchtâ unerbittlich bestrafte, lebensgefährlich sein konnte.
Judith Herman hat im Zusammenhang mit der Alltäglichkeit der Gewalt für Soldaten auf die Befunde amerikanischer Psychologen nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen, dass nach 200âââ240 Tagen im Kampfeinsatz selbst beim stärksten und tapfersten Soldaten eine Grenze überschritten werde und es zum Zusammenbruch komme; in diesem Kontext entwickle sich eine extreme emotionale Abhängigkeit von den Kameraden und den direkten Vorgesetzten.104 Ãhnlich argumentiert auch Jonathan Shay, der die Abhängigkeit des modernen Soldaten von der Armee mit dem Verhältnis eines Kleinkindes zu seinen Eltern vergleicht.105 Davon ausgehend entsprechen die Bindungen zu den Kameraden und dem Vorgesetzten jenen zu Geschwistern und Eltern, wobei die Widerstandskraft des Einzelnen stark vom Grad der Identifikation mit dieser Gruppe abhängt.106 In der Verletzung dieses Gefüges â primär durch den Vater-Vorgesetzten â durch einen Verrat an dem, âwas recht istâ, d.âh. durch einen Bruch der moralischen Bindung, sieht Shay eine der Grundlagen für Traumatisierungen im militärischen Bereich: Erst dieser Treubruch führt für ihn zur dauerhaften Störung sozialer Kompetenzen.107 Dieser Treubruch besteht vor allem in ungerechter Behandlung, z.âB. durch unverhältnismäÃig häufige Zuweisung gefährlicher Aufgaben, denn âSoldaten entwickeln schwere Zweifel an der fairen Verteilung der Risiken, wenn sie sehen, wie ihre Kommandeure sich selber vor Gefahren schützen.â108 Weitere Formen sind etwa die âinkonsequente, unvorhersehbare, launenhafte und gewaltsame Durchsetzung von Regelnâ, die âVerletzung der eigenen moralischen Grundsätzeâ, die âBeteiligung an der Opferung oder Schikanierung andererâ oder die âTeilnahme an unmoralischen, abstoÃenden oder illegalen Praktiken.â109
Neben diesem Verrat an dem, was recht ist, nennt Shay vier Faktoren, die inzwischen als konstitutiv für Kriegstraumata bei Soldaten gelten: âKonfrontation mit dem Kampf, Konfrontation mit miÃbräuchlicher Gewaltanwendung, Entbehrungen und der Verlust an Willenskraft und Kontrollvermögen.â110 Die höchste Wahrscheinlichkeit
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