Gehwegschäden by Helmut Kuhn
Autor:Helmut Kuhn
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Frankfurter Verlagsanstalt
veröffentlicht: 2012-02-21T00:00:00+00:00
18. Die Gerichtsvollzieherin kommt zu Frantz, raucht, regt sich furchtbar auf und entspannt sich wieder
Die Gerichtsvollzieherin klingelt am nächsten Morgen und steht vor Thomas Frantzens kleiner Dachwohnung in Begleitung eines jungen breitschultrigen Mannes. Sie keucht. Der Mann trägt eine schwarze Nappalederjacke nach Art der Gangsterfilme. Det is mein Kollege, sagt sie gleich. Der junge breitschultrige Mann nickt. Frantz öffnet die Tür und lässt beide herein. Er entschuldigt sich, er möchte ihnen lieber nicht die Hand geben, er habe sich wohl ein wenig erkältet. Ja, ja, man redet ja überall nur noch von Schweinegrippe und Pandemie, sagt die Gerichtsvollzieherin und prescht ins Zimmer.
Über den schrägen Dachfenstern brauen sich Wolken zusammen, Frantz bemerkt das, die Gerichtsvollzieherin öffnet ihren schweren schwarzen Koffer auf dem Fußboden. Die Frau ist Anfang oder Mitte vierzig, schätzt Frantz. Sie ist dünn, wirkt abgehetzt, sie hat schlechte Haut und stumpfe, fettige Haare. Starke Raucherin. Das sieht Frantz an ihren gelben Zähnen. Der Mann erscheint ihm dagegen kerngesund. Die Frau kramt eine Schachtel aus ihrer Jackentasche und steckt sich eine Zigarette an.
Thomas Frantz erklärt, er habe nur fünfundzwanzig Euro da. Das möchte er anzahlen, er sei ja zahlungswillig, und den Rest abstottern. Frantz nimmt das Geld vom Schreibtisch und entdeckt, dass auf einem der Zehn-Euro-Scheine ein Treueherz des Kaiser’s klebt.
'Das ist zu wenig', sagt die Gerechtigkeitsvollzieherin, 'es geht hier um vierhundert.'
'Was?'
Frantz erschrickt.
'Wovon reden wir hier?'
'Na von dieser Forderung.' Die rauchende Gerichtsbarkeit hält Frantz ein riesiges gelbes Papier unter die Nase.
'Aber das ist doch schon längst bezahlt?! Wissen Sie eigentlich, warum Sie hier sind?'
Das Gericht zieht an seiner Zigarette, obwohl noch immer atemlos wegen der Treppen, und sieht Frantz verdutzt an.
'Sie sind hier, weil Sie sechzehn Euro dreiunddreißig für einen Rechtsanwalt eintreiben, obwohl er schon fünfundzwanzig Euro von mir bekommen hat.'
Die Gerechtigkeit qualmt und sieht auf das Papier.
Eine Weile überlegt sie.
'Was?'
'Sie treiben sechzehn Euro Märchengebühren für einen Anwalt ein.'
'Ach, erzählen Se mir nüscht. Sie wissen ja gar nicht, was man in diesem Beruf heutzutage alles erlebt. Wissen Se was? Ick hab et satt. Heulende Menschen, verzweifelte Menschen, kotzende Menschen, stinkende Menschen, und das um jede Uhrzeit. Alle sind se verzweifelt. Alle haben se Geschichten. Immer. Alle sind se schlauer als ick, grundsätzlich. Ick meene, morgens um halb neun, det is doch ’ne zivile Uhrzeit, der Mensch is ja durch mein Büro dreimal schriftlich vorjewarnt worden, und dann muss ick einen unausgeschlafenen und nach irgendeinem Pitralon oder Alkohol stinkenden Menschen ertragen, so genau kann ick das morgens gar nich auseinanderhalten, so ’n behaarter Kerl, der in Unterhosen die Tür aufmacht und sich unablässig am Sack kratzt, und dann hat er auch noch die Verve, mir zu sagen, er hat det Geld natürlich nich. Also da müssen wir eben pfänden. Das heißt ja erst mal nur, wir kleben ’n Kuckuck, aba auf was? Auf einen wandbreiten Flachbildschirmfernseher der neuesten Generation, den ick gar nicht pfänden darf, weil der arme Herrfrauhartzvierempfänger denn nüscht mehr zum Glotzen hat?
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