Geheimer Ort. Kriminalroman by Tana French

Autor:Tana French [French, Tana]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104023885
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2014-11-06T16:00:00+00:00

Um die Mädchen zu beschäftigen, Gott stehe ihnen bei, hatte McKenna beschlossen, sie singen zu lassen. Ihre Stimmen drangen uns über den Flur entgegen, dünn und spärlich. O Mary, we crown thee with blossoms today …

Es war viel zu warm im Gemeinschaftsraum, selbst bei geöffneten Fenstern. Die Teller vom Abendessen standen noch herum, die meisten kaum angerührt; von dem Geruch nach kalter Hühnerpastete bekam ich Heißhunger, und zugleich wurde mir übel. Die Augen der Mädchen waren glasig und huschten hin und her, zu den anderen, zu den Fenstern, zu Alison, die unter einem Berg Hoodies in einem Sessel hockte.

Die Hälfte von ihnen bewegte kaum die Lippen. Queen of the angels and queen of the may. Es dauerte einen Moment, bis sie uns bemerkten. Dann geriet der Gesang ins Stocken und erstarb.

»Selena«, sagte Conway, kaum ein Nicken Richtung McKenna. »Hast du einen Moment Zeit?«

Selena hatte mitgesungen, geistesabwesend, Blick ins Leere. Sie sah uns an, als müsse sie angestrengt überlegen, wer wir waren, ehe sie aufstand und zur Tür kam.

»Denk dran, Selena«, sagte McKenna, als sie an ihr vorbeiging, »falls du in irgendeiner Weise das Gefühl hast, dass du Unterstützung brauchst, kannst du die Befragung sofort unterbrechen und verlangen, dass ich oder eine andere Lehrkraft dazukommt. Die Detectives wissen das.«

Selena lächelte sie an. »Ich komm schon klar«, sagte sie beruhigend.

»Na klar tut sie das«, sagte Conway munter. »Warte bitte in deinem Zimmer auf uns, okay, Selena?«

Während Selena den Flur hinunterschlenderte: »Julia«, sagte Conway und winkte sie zu sich. »Komm mal kurz her.«

Julia hatte uns den Rücken zugewandt und sich nicht bewegt, als wir hereinkamen. In der Sekunde, als sie sich umdrehte, sah sie mitgenommen aus: grau und abgespannt, ohne jeden Schwung. Als sie bei uns ankam, hatte sie irgendwie ein bisschen Elan aufgebracht, sah uns wieder frech an.

»Ja?«

Conway zog die Tür hinter ihr zu. Leise, damit Selena es nicht hörte: »Wieso hast du mir nicht erzählt, dass du was mit Finn Carroll am Laufen hattest?«

Julias Gesicht verhärtete sich. »Joanne, die fiese Kuh. Richtig?«

»Spielt keine Rolle. Letztes Jahr hab ich dich nach deinem Verhältnis zu irgendwelchen Jungs vom Colm gefragt. Wieso hast du da nichts gesagt?«

»Weil es nichts zu sagen gab. Es war keine Beziehung. Finn und ich haben uns nie angefasst. Wir haben uns einfach gemocht. Als Menschen eben. Und genau deshalb haben wir keinem erzählt, dass wir zusammen rumgehangen haben, und auch das nur ganz wenig, bloß für zwei Sekunden oder so. Aber wir wussten, dass dann alle rumlästern würden: ›OmeinGott, Fi-hinn und Juliaaa, Fi-hinn und Juliaaa …‹ Und wir hatten keine Lust auf so einen Scheiß. Okay?«

Ich dachte an Joanne und Gemma, die leise in der Dunkelheit kicherten, und glaubte ihr. Conway auch. »Okay«, sagte sie, »in Ordnung.« Und als Julia sich abwandte: »Was macht Finn jetzt eigentlich so? Geht’s ihm gut?«

Nur für eine Sekunde verwandelte jähe Trauer Julias Gesicht in das einer Erwachsenen. »Keine Ahnung«, sagte sie, ging zurück in den Gemeinschaftsraum und schloss die Tür.

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