Gebrauchsanweisung für Zürich by Moser Milena
Autor:Moser, Milena [Moser, Milena]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Reise
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 2015-10-12T16:00:00+00:00
Früh übt sich, wer ein Zürcher werden will
An einem ganz normalen Donnerstag kurz vor Mittag in einem Tramwagen zwischen Central und Hauptbahnhof. Das Wetter ist schlecht, und ich bin auch schon wieder zu spät dran. Hinter mir unterhalten sich zwei über Eidechsen – ausgelöst wurde die Diskussion wohl durch ein farbenfrohes Plakat, das mit dem Abbild einer solchen für den Zürcher Zoo wirbt.
»Eidechsen gibt es also nicht nur in der Toskana«, sagt der eine.
»Oder in Südfrankreich«, der andere.
»Nein, Eidechsen gibt es überall, auch bei uns.«
»Viele sogar. Sehr viele.«
»Einmal«, so holt der eine aus, »einmal war da ein Teich, und ich ging schwimmen mit meinem Vater, und mein Vater fing eine Eidechse mit der Hand. Für mich!«
»Hast du sie angefasst?«
Die Mitfahrer, die sich so gewählt ausdrücken und so fundierte Kenntnisse über die europäische Fauna beweisen, sind im Kindergartenalter und kommen gerade vom Zürcher Zoo. Es ist nationale Schulreisesaison, und die Chance, ein Abteil in einem beliebigen öffentlichen Verkehrsmittel mit einer Gruppe Kinder zu teilen, hoch. Unverhofft in einer Masse Kinder oder Jugendlicher eines Alters eingeklemmt, verschwindet man. Und unsichtbar geworden, wird man Zeuge unglaublicher, berührender, irritierender, authentischer Szenen, die einem sonst immer vorenthalten bleiben. Wie hier im Tram Nummer 5, das nun gemächlich über die Quaibrücke ruckelt. Aus der Sitzbank hinter mir klingt ein beinahe nostalgischer Seufzer.
»Was für ein schöööööner See«, spricht der Fünfjährige.
Und sein Sitznachbar, im selben wehmütigen Ton: »Aber soooooo zigarettlich! Ui, ui, ui!«
Zigarettlich?, denke ich. Ich widerstehe der Versuchung, mein Notizbuch hervorzunehmen und den Ausdruck aufzuschreiben, den der kleine Bub folgendermassen erläutert: »Überall liegen Zigarettenstummel herum!« – eine altkluge Beobachtung, vermutlich irgendwo aufgeschnappt und jetzt erst einmal versuchshalber angewendet, so wie ich das neue Wort heute Abend zu Hause ausprobieren werde: »Wie kommt es, dass die leere Kaffeetasse so zigarettlich geworden ist?« Oder: »Ich wünschte, der Blumentopf wäre nicht immer so zigarettlich.« Da muss ich vielleicht noch etwas üben.
Am selben Abend besuchte ich eine Freundin und hörte dort zwei vielleicht neunjährige Mädchen das Mittagsmenü im Hort der öffentlichen Schule kritisieren.
»Wenn das echtes Rinderhack war, dann fress ich einen Besen!«, sagte die eine.
»Der wäre wenigstens nicht so labbrig wie die Spaghetti gestern!«
»Al dente, tote Ente!« Jetzt kicherten sie wenigstens hinter vorgehaltenen Händen, vorher hatten ihre Stimmen so gelangweilt geklungen, als seien sie kurz davor, vor lauter ennui de vivre in ein Koma zu sinken. Ich stand kurz davor, den beiden Gören einen Vortrag über Snobismus und gute Manieren zu halten und über die zunehmende Vergourmetisierung der Stadt, die ich persönlich sehr bedauere – man wird ja in Zürich kaum je zu einem ungezwungenen Essen unter Freunden eingeladen, nein, man muss sich immer gleich einen Vortrag über die Zusammensetzung und die Zubereitung der Speisen anhören: wie besonders und selten die Zutaten sind, wie und wo man diese gefunden und erstanden hat. Nur das Beste ist gut genug. Dann wird einem auch gleich das edle Kochgerät vorgeführt, die Messer werden gezückt und, wenn man Pech hat, auch noch die Kosten der Mahlzeit vorgerechnet.
Doch die Mütter der beiden Mädchen, die ich gut kenne und auch mag, waren seltsamerweise stolz auf ihren Nachwuchs.
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