Gebrauchsanweisung für Sizilien by Neumann Constanze
Autor:Neumann, Constanze [Neumann, Constanze]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Reise
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
Die ehrenwerte Gesellschaft zwischen Mythos und Realität
Eigentlich gibt es sie längst nicht mehr. Sie gehört einer Vergangenheit an, in der sich Männer in dunklen Anzügen und mit blank polierten Schuhen auf der Dorfpiazza wortlos Zeichen gaben, die Frauen schnell die Fensterläden zuklappten und ein Schuss durch die glühende Mittagshitze hallte. Fragt man heute einen Sizilianer nach der Mafia, wird der entweder ungehalten reagieren (hätte man diese und andere Vorurteile nicht zu Hause lassen können?) oder liebenswürdig lächelnd mit einer malerischen Mafialegende aufwarten.
Aber auch heute noch ist das Phänomen Mafia Teil der sizilianischen Realität und hat sich vor allem in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts tief ins Antlitz der Insel eingegraben: Bauspekulation, Vetternwirtschaft und eine Korruption, der kaum Herr zu werden ist, zeugen davon. Und es ist lange her, dass das Adjektiv mafiusu im sizilianischen Dialekt eine schöne Frau bezeichnete.
Die historische Mafia gründete auf typisch sizilianischen Werten wie Ehre und Stolz. Ihr Kern war die Familie, deren Oberhaupt die Geschicke von »Cosa Nostra« lenkte und leitete. Einst ging es um Siziliens Landwirtschaft oder, wie im Fall des berühmten italo-amerikanischen Mafiabosses Salvatore Lucania, besser bekannt unter dem Namen Lucky Luciano, um Schwarzmarkthandel und Drogen. Die schillernde Figur des in dem kleinen Dörfchen Lercara Friddi westlich von Palermo geborenen Luciano hat Romanciers und Regisseure immer wieder fasziniert. 1936 wurde der Boss in New York verhaftet, aber bereits 1946 freigelassen: Als die USA die Landung der Alliierten auf Sizilien vorbereiteten, brauchte man seine Verbindungen zur sizilianischen Mafia. Luciano wurde später nach Neapel abgeschoben, wo er 1962 eines natürlichen Todes starb – ein ungewöhnliches Ende für einen Mafiaboss.
Denn schon immer bekriegten sich die Mafiafamilien gegenseitig und metzelten sich auf jede nur erdenkliche Art und Weise nieder: erschießen, einzementieren, verstümmeln, in Säure auflösen, zu Schweinefutter verarbeiten – der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Die Todesart war dabei oft eine Nachricht an den Feind, und ein als lupara bianca bezeichneter Mord der schlimmste: Dabei verschwand das Opfer spurlos, und den Angehörigen blieb nicht einmal die Möglichkeit einer Bestattung. Lupara ist die sizilianische Schrotflinte, mit der einst Wölfe gejagt wurden, und die längst nur noch Requisit in farbenprächtigen Mafiafilmen ist.
Das Vorbild für Don Vito Corleone im ›Paten‹, dem wohl berühmtesten Mafia-Schinken Hollywoods, lieferte Don Vito Genovese, der jedoch aus Neapel stammt und damit der Camorra, der neapolitanischen Mafia-Version, angehört. Corleone hingegen ist der Name des berüchtigtsten Mafiaortes Siziliens südlich von Palermo, aus dem zwei sehr reale Superbosse stammen: Totò Riina, der 1993 nach über zwanzig Jahren auf der Flucht verhaftet wurde. Und Bernardo Provenzano, der Boss der Bosse, der bereits in den frühen Sechzigerjahren abtauchte und die Geschicke der »Corleonesi« aus dem Untergrund mit harter Hand lenkte. Jahrzehntelang kursierte von ihm nur ein Jugendfoto, ein Phantombild der Polizei und der gespenstische Spitzname »Binnu u tratturi«, »Benno, der Traktor«, weil er für seine unerbittliche Grausamkeit bekannt war. Er ließ nicht nur ermorden, er mordete selbst. Seine Familie verließ 1992 ihr Versteck und lebte eine Art normales Leben, schwieg aber natürlich beharrlich über den Verbleib und das Schicksal von Provenzano.
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