Galizien (B00C5BE84G) by Martin Pollack
Autor:Martin Pollack [Pollack, Martin]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Insel Verlag
veröffentlicht: 2013-04-15T04:00:00+00:00
Abb. 19: Ringplatz in Kolomea
Kolomea war eine schmutzige Stadt. Schmalbrüstige Häuser, ganze Straßenzüge ohne Kanalisation und Beleuchtung, die Fahrbahnen schlecht geschottert und voll tiefer Löcher. Am Ringplatz der viereckige Turm des zurückversetzten Rathauses, ein paar zweitrangige Hotels und Restaurants, das »Narodowy«, das »Grand«, das Speisehaus Fritz, die Weinhandlungen und Frühstücksstuben Bereżnicki und Sperber, die Buchhandlung von Chaim Zimbler, die Kürschnerei von Schapse Sack; es gab in der Bezirksstadt ein polnisches und ein ruthenisches Gymnasium, eine Haushaltungsschule für jüdische Mädchen, eine Landesfachschule für Holzschnitzer und eine Obstbauschule; eine Finanzbezirksdirektion, ein Kreisgericht und eine Spar-Casse, in deren Kassensaal zur Faschingszeit Redouten und Bälle abgehalten wurden. In Kolomea war ein Regiment Dragoner stationiert, und es gab ein Militärspital in der Franz-Joseph-Straße, einen traurigen, alten Kasten mit kleinen Fensterlöchern, der an ein Gefängnis erinnerte.
Am 15. August wurde jedes Jahr ein großes Kirchweihfest gefeiert, und da strömten die Bauern aus der näheren und ferneren Umgebung zusammen, die Huzulen trugen ihre bunten Trachten zur Schau und verkauften eingelegte Schnitzarbeiten, Bryndza und Urda. Es war auch ein Festtag für Taschendiebe, die eigens aus Czernowitz, Tarnopol und Stanislau angereist kamen. Und für die Bettler, von denen es in der Stadt am Pruth mehr gab als in irgendeinem anderen Ort in Ostgalizien.
1900 zählte Kolomea 32 000 Einwohner, mehr als die Hälfte Juden. Obwohl ein bedeutender Prozentsatz der Einwohnerschaft weder des Lesens noch Schreibens mächtig war und die meisten auch gar nicht die Mittel besaßen, eine Zeitung zu kaufen – die »Gazeta Pokucka« etwa, ein kleinformatiges Blatt mit acht Seiten, kostete zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts 10 Kreuzer, das entsprach ungefähr einem Drittel des täglichen Lohnes einer Schwefelhölzchenarbeiterin –, geschweige denn sie im Restaurant oder Kaffeehaus zu lesen, gab es in Kolomea erstaunlich viele Zeitungen. Polen, Juden, Ruthenen, Lehrer, die Angestellten der Baron-Hirsch-Schulen in Galizien, Bienenzüchter, sie alle hatten ihr eigenes Organ. Die Zeitungen machten Politik, gleichzeitig war aber auch jeder Lokalredakteur ein verhinderter Dichter.
Der spannendste Teil war die Chronik: Die Bewohner der Erzherzog-Rudolf-Straße beschwerten sich über das Singen und Lärmen, das aus dem dort liegenden Bordell drang; der »Kurjer Kołomyjski« griff die Sache auf, und die Stadtväter ließen das anstößige Etablissement schließen. Woche für Woche stiegen die Redakteure auf die Barrikaden: gegen die Horden von Bettlern, die im Stadtpark Orgien feierten; gegen die Radfahrer, die, ohne Rücksicht zu nehmen, über die raren Gehsteige flitzten und dabei Frauen und Kinder in die Gosse stießen; gegen die Taschendiebe und anderen Lumpen, die vor den Augen der Polizei ihr Unwesen trieben; gegen rotbehoste Dragoner, die nicht einmal eine Sprache der Einheimischen beherrschten, dafür aber nächtens Radau machten und ehrsamen Bürgerstöchtern die Fenster einwarfen; gegen Engelmacherinnen, die unschuldige Kinder zu Tode quälten.
Am 18. Juli 1909 meldete der »Kurjer Kołomyjski«, daß die Stadtpolizei die Engelmacherin Olena Aniuk, Ehefrau des Bergarbeiters Mikołaj A. aus der Bankowski-Straße, verhaftet habe; sie hätte im Auftrag einer entmenschten Mutter, die gewiß bald ausgeforscht und ebenfalls der gerechten Strafe zugeführt werden würde, zwei sechswöchige Säuglinge, Zwillinge, verhungern lassen. Es sei nur dem Zufall zu verdanken, klagte der »Kurjer Kołomyjski«, daß
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