GRM (German Edition) by Sibylle Berg

Autor:Sibylle Berg [Berg, Sibylle]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783462319538
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch eBook
veröffentlicht: 2019-04-28T16:00:00+00:00

Hannah

Denkt an ihr früheres Leben. In dem es noch erwachsene Bezugspersonen gab. Nachbarn oder Lehrer, die stundenlange Vorträge über mittelmäßige Musik gehalten hatten. Hannah hat nie verstanden, warum Männer nicht einfach Musik hören und die Klappe halten können, warum sie sich, wenn sie schon darüber nachdenken müssen, nicht darüber klar werden, dass Musik nur ein legitimes Mittel für Verklemmte ist, um Gefühle ausdrücken zu lassen. Nein, da muss gequatscht werden. Da muss jedes kleine Zucken einer plötzlich gefühlten Lebendigkeit überhöht werden. Die Beatles also, Liverpool, unsere weißen Genies, die Musik für weiße, junge Menschen neu erfunden hatten. Sting. Boah, Alter. Sting. Diese Bands als das vielgestaltigste, widersprüchlichste und großartigste popmusikalische Zeitdokument und so weiter, und dann landeten sie immer, immer auch bei Bob Dylan. Den größten weißen männlichen Poeten aller Zeiten, der mit Zeilen wie

»All die müden Pferde unter der Sonne –

Wieso meint man, ich hätte

Irgendeinen Ritt unternommen?

(Mmmmmmmmmmmm …)«

Die Welt der Dichtung erschüttert hat.

Die müden Pferde, sind sie nicht eine Metapher für den weißen alten Mann? Der am Ende seines Lebens auf sein sogenanntes Werk schaut. Und was sieht er da? Nichts sieht er da. Das Leben hatte sie gefickt. Die alten Beatles-Fans. Sie fahren vermutlich Uber, bis die selbst fahrenden Autos ihnen auch diesen dünnen Lebensinhalt nehmen werden, sie fahren durch die Paki- und Araber-Viertel und spucken vor den Moscheen aus, als hätten sie noch nicht mitbekommen, dass der Hass auf Muslime out ist. Sie haben alles gegeben: Sie waren in der Nazipartei und haben Schweineköpfe in Arabervierteln deponiert. Sie waren wütend, und das zu Recht, denn so ein alter Mann mit über vierzig spürt doch, dass für ihn nichts mehr stattfinden wird.

»Habt ihr noch ein paar Chips übrig?«, fragt Hannah, aus den Gedanken zurückgekehrt, in den Raum, in dem sich nichts verändert hat. Das Licht flackert nicht, die Musik ist nicht mehr zu hören, die Hacker reden über einen Plan, der mit Tunneln zu tun hat.

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